OLG Karlsruhe

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Zitieren als:
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25.05.2009 - 5 UF 224/08 - asyl.net: M17395
https://www.asyl.net/rsdb/M17395
Leitsatz:

Ein Eingriff in das Sorgerecht der Eltern setzt eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefährdung des Kindeswohls voraus. Besteht die Gefährdung des Kindeswohles in einer drohenden Beschneidung/Genitalverstümmelung, bedarf es nur geringer Anzeichen für eine entsprechende Gefahr, um einen Eingriff nach § 1666 BGB zu rechtfertigen.

Die Entziehung des Sorgerechts hinsichtlich der Reise eines Kindes ins Ausland greift in das durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Recht der Eltern zur eigenverantwortlichen Bestimmung von Pflege und Erziehung ihres Kindes ein.

Ein solcher Eingriff ist nur zu rechtfertigen, wenn im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für eine drohende Verletzung des Kindeswohls vorliegen.

Schlagwörter: Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung, Genitalverstümmelung, konkrete Verdachtsmomente, Verdacht, Ermittlungen, elterliche Sorge, Sorgerecht, Eltern, missbräuchliche Ausübung des Sorgerechts, Gefährdung, Gefährdung des Kindeswohls
Normen: BGB § 1666,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Beschwerde der Kindeseltern ist begründet und führt zu der Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses. Die Voraussetzungen eines Eingriffs nach § 1666 BGB in die elterliche Sorge der Beschwerdeführer für ihr Kind liegen nicht vor.

1. Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte, die in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen ist, folgt aus Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003.

Gemäß Art. 21 EGBGB richtet sich das anwendbare Recht nach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, somit vorliegend nach deutschem Recht.

2. § 1666 Abs. 1 BGB gestattet und erfordert den Eingriff in die grundrechtlich geschützte (Art. 6 GG) elterliche Sorge, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch Versagen eines Dritten gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen.

Ein Eingriff in das Sorgerecht der Eltern setzt demnach eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefährdung des Kindeswohles voraus. Die Gefahr muss in einem solchen Maße vorhanden sein, dass sich bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BGH FamRZ 2005, 344 ff.; MünchKommBGB/Olzen, 5. Aufl., § 1666, Randnr. 50; Erman/Michalski, BGB, 12. Aufl., § 1666, Randnr. 4; Staudinger/Coester, BGB, 2004, § 1666, Randnr. 79 [hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts]; Soergel/Strätz, BGB, 12. Aufl., § 1666, Randnr. 32; Bamberger/Roth/Veit, BGB, 2. Aufl., § 1666, Randnr. 5). Ein Eingriff in die elterliche Sorge ist deshalb nur zulässig, wenn Tatsachen festgestellt werden können, die den Schluss auf eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls rechtfertigen. Diese konkrete Gefährdung als Voraussetzung eines Eingriffs ist in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände festzustellen.

3. Nach diesen Grundsätzen fehlt es im Streitfall an den tatsächlichen Voraussetzungen für einen Eingriff in das Sorgerecht der Beschwerdeführer.

Bei der Beschneidung bzw. der genitalen Verstümmelung eines Mädchens handelt es sich allerdings um einen schweren, irreparablen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, der bleibende physische und psychische Schäden zur Folge hat, und deshalb um eine das Kindeswohl in hohem Maße beeinträchtigende Behandlung.

Der Senat stimmt auch mit dem Familiengericht darin überein, dass an den Grad der Wahrscheinlichkeit der Gefährdung des Kindeswohls umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und gewichtiger der drohende Schaden ist. Besteht dieser Schaden in einer Beschneidung bzw. genitalen Verstümmelung, bedarf es deshalb nur geringer Anzeichen für eine entsprechende Gefahr, um einen Eingriff nach § 1666 BGB zu rechtfertigen. Das bedeutet jedoch nicht, dass auf das Vorliegen konkreter Verdachtsmomente gänzlich verzichtet werden kann und bereits eine abstrakte Gefährdung ausreicht, um ein Eingreifen zu rechtfertigen.

Zwar handelt es sich bei Äthiopien um ein Hochrisikoland hinsichtlich der weiblichen Genitalverstümmelung. Nach einer Studie des ORC Macro (einem amerikanischen Forschungsinstitut) zu Äthiopien (Democratic and Health Survey) von 2005, auf die sich auch UNICEF und die deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit beruft, sind in Äthiopien 74 % der weiblichen Bevölkerung von Genitalverstümmelung betroffen, wobei die Raten in den einzelnen Regionen unterschiedlich sind. Im Vergleich zum Jahr 2000 hat die Unterstützung der Genitalverstümmelung danach abgenommen: 38 % der Mütter von Mädchen haben mindestens eine Tochter beschneiden lassen, im Jahr 2000 noch 52 %. Frauen mit höherem Bildungsgrad und auch einer städtischen Umgebung seien eher bereit, die Praktik aufzugeben (vgl. www.unicef.org/EThiopia/ET_fgm.pdf).

Bereits hieraus ergibt sich aber, dass die bloße Herkunft der Eltern eines Kindes aus Äthiopien allein nicht indiziert, dass gerade diese Eltern ihre Töchter in ihrem Heimatland beschneiden lassen wollen bzw. nicht in der Lage sind, das Kind hiervor zu schützen.

Unicef (www.unicef.de) weist daraufhin, dass nahezu 80 Prozent der Mädchen in Äthiopien an ihren Genitalien beschnitten würden. Jedes zweite Mädchen werde verheiratet, bevor es das 14. Lebensjahr erreicht habe. Bei zwei von drei Mädchen beginne die Ehe mit einer Entführung und vielfach auch mit einer Vergewaltigung. Ihre Eltern müssten den Täter als Schwiegersohn akzeptieren, wollten sie die Ehre ihrer Tochter retten.

Diese Darstellung deutet daraufhin, dass eine Gefährdung in erster Linie in archaischen Lebensverhältnissen droht.

Die Feststellung allein, dass es sich bei Äthiopien um ein Hochrisikoland hinsichtlich der weiblichen Genitalverstümmelung handelt, reicht deshalb nicht aus, um in jedem Fall, in dem ein weibliches Kind äthiopischer Herkunft nach Äthiopien reisen soll, unabhängig von den konkreten Lebensverhältnissen der elterlichen Familie, eine Maßnahme nach § 1666 BGB zu rechtfertigen.

Die Entziehung des Sorgerechts hinsichtlich der Reise eines Kindes ins Ausland, wie vorliegend, greift in das durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Recht der Eltern zur eigenverantwortlichen Bestimmung von Pflege und Erziehung ihres Kindes ein. Ein solcher Eingriff ist nur zu rechtfertigen, wenn im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für eine drohende Verletzung des Kindeswohls vorliegen. Eine andere Betrachtungsweise würde Eltern, die aus einem Hochrisikoland hinsichtlich der Beschneidungsgefahr stammen, unter einen Generalverdacht stellen und u.a. gegen das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen (vgl. die Stellungnahme der Bundesministerien vom Januar 2008 - www.taskforcefgm.de/img/Stellungnahme% 20der%20Bundesministerien.pdf -).

4. Vorliegend sind nach den Erkenntnissen des Senats keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass D. im Falle eines Besuchs der Großeltern in Addis Abeba einer Beschneidung unterzogen werden könnte. Vielmehr haben die Ermittlungen des Senats zu den Lebensverhältnissen der Eltern und der Großeltern, die das Kind besuchen sollte, ausreichend Anhaltspunkte dafür ergeben, die gegen eine derartige Gefährdung sprechen.

a) Die Kindeseltern leben seit Jahren in Deutschland und sind hier integriert. Sie haben bei ihrer Anhörung durch den Senat glaubhaft versichert, dass sie eine Beschneidung von Mädchen ablehnen. (...).

b) Auch der vom Senat im Wege der Amtshilfe eingeholte Bericht der Deutschen Botschaft in Addis Abeba über die Lebensumstände der Großeltern, deren Umfeld, Bildungsstatus und Einstellung zur Genitalverstümmelung lassen Verdachtsmomente für eine Gefährdung D.s bei einem Aufenthalt bei den Großeltern in Addis Abeba nicht zu.

Der Mitarbeiter der Deutschen Botschaft hat die Großeltern aufgesucht, die Lebensumstände überprüft und hat in seinem Bericht Folgendes ausgeführt:

Die Großeltern entstammten dem gutbürgerlichen äthiopischen Bildungsbürgertum. [...]

Alle der anwesenden Familienangehörigen hätten sich deutlich von der in Äthiopien praktizierten Genitalverstümmelung distanziert. Diese Praxis sei mit ihrem Lebensstil nicht vereinbar. Genauso würden alle in ihrem Bekanntenkreis und alle gebildeten Äthiopier denken. Im Übrigen sei es in Äthiopien auch verboten, Genitalverstümmelungen vorzunehmen. Es sei ihnen jedoch bekannt, dass weiterhin in Afar und anderen Regionen in Äthiopien Genitalverstümmelungen vorgenommen werden würden, was sie sehr schlimm fänden.

Der Bericht schließt ab mit der Einschätzung des Verfassers, dass D. in keiner Weise bei einem Aufenthalt bei ihren Großeltern in Addis Abeba gefährdet wäre.

Die dem Bericht beigefügten Lichtbilder von den Angehörigen der Familie und deren Lebensverhältnissen unterstützen die Angaben des Berichts. Der Senat sieht keinen Anlass, Zweifel an der persönlichen Einschätzung des Mitarbeiters der Deutschen Botschaft, der mit der Lebenseinstellung der äthiopischen Bevölkerung vertraut ist, zu hegen. [...]

c) Vor diesem Hintergrund kann auch der Umstand, dass die Reise D.s ohne die Eltern bzw. eines Elternteils nur in Begleitung ihres älteren Bruders geplant war, keine Verdachtsmomente dafür begründen, dass für D. bei einem Aufenthalt bei den Großeltern die Gefahr einer Genitalverstümmelung bestanden hätte. Die Eltern hatten für eine Begleitung durch eine erwachsene Person, nämlich eines Freundes der Familie, des Vaters des Patenkindes des Beschwerdeführers, gesorgt. Die Großeltern waren ohne weiteres in der Lage, ihre Enkelkinder vom Flughafen abzuholen, so dass insgesamt eine Situation bestanden hätte, die auch auf westlichen Flughäfen nicht ungewöhnlich ist.

Abgesehen davon haben die Kindeseltern sowohl für das Motiv der beabsichtigten Reise der beiden Kinder zu den Großeltern als auch dafür, dass eine elterliche Begleitung nicht erfolgen sollte, nachvollziehbare Gründe angegeben. [...]

d) Unter Berücksichtigung und Abwägung der ermittelten Umstände sieht der Senat auch bei einer niedrigen Eingriffsschwelle keine konkreten Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindes bei einer Reise zu den Großeltern nach Addis Abeba. Die Voraussetzungen für Maßnahmen im Sinne des § 1666 BGB liegen nicht vor. [...]