OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 17.08.2010 - 1 B 166/10 - asyl.net: M17427
https://www.asyl.net/rsdb/M17427
Leitsatz:

Dem gambischen Antragsteller als Ehegatten einer deutschen Staatsangehörigen, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat (Arbeitnehmerin in Dänemark, dort auch Heirat), steht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Recht auf Einreise und Aufenthalt zu. Es handelt sich um einen sog. Rückkehrfall, d.h. ein Unionsbürger hat sich für längere Zeit in Ausübung seines Freizügigkeitsrechts in einem anderen EU-Staat aufgehalten und er ist dann mit einem drittstaatsangehörigen Ehegatten, den er inzwischen geheiratet hat, in sein Herkunftsland zurückgekehrt. Unerheblich sind für das Aufenthaltsrecht nach dem Unionsrecht in diesen Fällen Deutschkenntnisse oder der Bezug von Sozialleistungen nach der Einreise. Alleinige Voraussetzung ist das Bestehen der Ehe und der Nachweis der Identität.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Unionsbürger, freizügigkeitsberechtigt, Schutz von Ehe und Familie, deutscher Ehegatte, drittstaatsangehöriger Ehegatte, Heirat in Dänemark, vorläufiger Rechtsschutz, Beschwerdeverfahren, Widerspruch, Suspensiveffekt, Deutschkenntnisse, Unionsbürgerrichtlinie, Sozialleistungen, Rückkehr, Fiktionswirkung, Straftat, Abschiebungsandrohung,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1, FreizügG/EU § 11 Abs. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 5, FreizügG/EU § 3 Abs. 1 S. 2, FreizügG/EU § 4 S. 1, AufenthG § 83 Abs. 3, AufenthG § 50 Abs. 1, AufenthG § 59 Abs. 1
Auszüge:

Das Aufenthaltsrecht, das dem drittstaatsangehörigen Ehegatten in den sog. Rückkehrfällen nach Unionsrecht zusteht, besteht auch dann, wenn der Unionsbürger nach seiner Rückkehr nicht erwerbstätig ist.

(Amtlicher Leitsatz)

[...]

Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes richtet sich auch hinsichtlich der Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach § 80 Abs. 5 VwGO. Zwar hat die Aufenthaltserlaubnis in den Fällen, in denen dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht nach Unionsrecht zusteht, nur deklaratorische Bedeutung. Aus diesem Grund findet die Vorschrift des § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, nach der Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis keine aufschiebende Wirkung haben, auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach Unionsrecht ein Recht auf Einreise und Aufenthalt haben, keine Anwendung (§ 11 Abs. 1 FreizügG/EU). Hier ist aber gerade streitig, ob der Antragsteller ein solches Recht hat. Die Antragsgegnerin hat dies verneint und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach nationalem Recht versagt. Als Folge dessen soll der Antragsteller sich auch nicht mehr vorläufig weiter in Deutschland aufhalten dürfen. Damit diese Folge nicht eintritt, bedarf es eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO.

Nach der in einem Eilverfahren allein möglichen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage erscheint es überwiegend wahrscheinlich, dass dem Antragsteller als Ehegatten einer deutschen Staatsangehörigen, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, ein Recht auf Einreise und Aufenthalt zusteht.

Der drittstaatsangehörige Ehegatte eines Unionsbürgers, der diesen bei der Wahrnehmung seiner Freizügigkeitsrechte begleitet, hat ebenso wie der betreffende Unionsbürger ein sich unmittelbar aus dem Unionsrecht ergebendes Recht auf Einreise und Aufenthalt. Dieses Recht ist von der Einhaltung einer nationalen Aufenthaltsvisumpflicht unabhängig (vgl. EuGH, U. v. 25.07.2002, C-459/99 [MRAX], InfAuslR 2002, 417; U. v. 14.04.2005, C-157/03, [KOM ./. Spanien], InfAuslR 2005, 299; U. v. 25.07.2008, C-127/08 [Metock], InfAuslR 2008, 377) und auch sonst grundsätzlich an keine weiteren Voraussetzungen als das Bestehen einer Ehe und den Nachweis der Identität geknüpft. Aus diesem Grund bedarf es etwa nicht des Nachweises deutscher Sprachkenntnisse. Die Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 - UnionsbürgerRL - sowie das FreizügG/EU setzen diese Grundsätze, die sich unmittelbar aus dem Primärrecht der Union ergeben, näher um.

Sie gelten auch in den sog. Rückkehrfällen, d. h. wenn ein Unionsbürger sich für längere Zeit in Ausübung seines Freizügigkeitsrechts in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat und dann mit einem drittstaatsangehörigen Ehegatten, den er inzwischen geheiratet hat, in seinen Herkunftsmitgliedstaat zurückkehrt. Der EuGH hat dazu ausgeführt, dass es die Wahrnehmung der Freizügigkeitsrechte beeinträchtige, wenn der Unionsbürger ein während des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat aufgenommenes Familienleben bei seiner Rückkehr nicht fortsetzen könne (EuGH, U. v. 07.07.1992, C-370/90, [Singh], Sammlung 1992, I-4265; U. v. 11.12.2007, C-291/05 [Eind], InfAuslR 2008, 114; vgl. auch Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU vom 26.10.2009, GMBl 2009, 1270, Ziff. 1.3 und 3.0.3). Die UnionsbürgerRL sowie das FreizügG/EU sind allerdings nach ihrem Wortlaut, da sie nur für Staatsangehörige aus anderen EU-Mitgliedstaaten gelten, auf die Rückkehrfälle nicht unmittelbar anwendbar. Sie können nur entsprechend herangezogen werden.

Vorliegend ist von einem Rückkehrfall auszugehen. Nach ihren Angaben hatten der Antragsteller und seine Ehefrau im November 2007 ihren Lebensmittelpunkt von den Niederlanden nach Dänemark verlegt, wo sie beide auch als Arbeitnehmer tätig waren. Die Antragsgegnerin hat bislang keinen Anlass gesehen, diese Angaben in Zweifel zu ziehen bzw. ihnen weiter nachzugehen, so dass das Gericht sie in diesem Eilverfahren zugrunde legt. Danach drängt es sich auf, dass die im November 2008 erfolgte Übersiedlung nach Deutschland eine "echte" Rückkehr darstellte. Die Fragen, die sich bei einem nur kurzfristigen Aufenthalt des Unionsbürgers und seines Ehepartners im EU-Ausland stellen (vgl. etwa VGH Mannheim, B. v. 25.01.2010 - 11 S 2181/09 - InfAuslR 2010, 143), sind hier nicht relevant.

Dass der Antragsteller und seine Ehefrau sogleich nach ihrer Einreise Sozialleistungen beantragt und bewilligt bekommen haben - und diese ersichtlich bis heute beziehen - steht der Anerkennung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt für den Antragsteller nicht entgegen. Die §§ 2 Abs. 2 Nr. 5, 3 Abs. 1 S. 2, 4 S. 1 FreizügG/EU, die das Verwaltungsgericht herangezogen hat, sind im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Nach diesen Vorschriften besteht für nicht erwerbstätige Unionsbürger und den begleitenden Ehegatten ein Freizügigkeitsrecht nur, wenn die Betreffenden über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Weil sie nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten, besitze der Antragsteller - so das Verwaltungsgericht - kein Aufenthaltsrecht. Die Tragfähigkeit dieser Argumentation erscheint aus mehreren Gründen zweifelhaft.

So ist bereits fraglich, ob der Antragsteller als Nichterwerbstätiger im Sinne der vom Verwaltungsgericht zitierten Vorschrift eingestuft werden kann. Der Antragsteller hat wiederholt vorgetragen, dass er die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erstrebt. Er sei hieran aber bislang aufgrund seines unsicheren aufenthaltsrechtlichen Status gehindert gewesen; die Antragsgegnerin habe ihm seit November 2008 lediglich Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs. 3 AufenthG erteilt. Bei dieser Sachlage wird man ihm kaum seine derzeitige Nichterwerbstätigkeit zu Last legen können.

Entscheidend ist jedoch, dass der EuGH ausdrücklich klargestellt hat, dass das Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Familienangehörigen in den Rückkehrfällen unabhängig davon besteht, ob der Unionsbürger, von dem er sein Aufenthaltsrecht ableitet, nach Rückkehr in sein Herkunftsmitgliedsstaat einer Erwerbstätigkeit nachgeht (U. v. 11.12.2007, C-291/05, [Eind], a.a.O.). Der EuGH hat in diesem Zusammenhang u. a. auf den gemeinschaftsrechtlichen Rang des Schutzes des Familienlebens hingewiesen, der auch in den Rückkehrfällen zu beachten sei. Danach scheitert das Aufenthaltsrecht des Antragstellers nicht an der Nichterwerbstätigkeit seiner Ehefrau.

Einreise und Aufenthalt des Antragstellers stehen auch nicht Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entgegen. Strafrechtliche Verurteilungen berühren unionsrechtlich die öffentliche Ordnung, wenn sie ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung einer erneuten Verletzung von Rechtsvorschriften begründet. Die drohende Verletzung muss ein Grundinteresse der Gesellschaft betreffen (vgl. § 6 Abs. 2 FreizügG/EU; Art. 27 ff. UnionsbürgerRL). Die vom Antragsteller begangenen Straftaten, die im Tatbestand des angefochtenen Beschlusses genannt werden, begründen nach Art und Gewicht keine solche Gefahr.

Da dem Antragsteller nach summarischer Prüfung unionsrechtlich ein Aufenthaltsrecht zusteht, fehlt es an der Ausreisepflicht als Voraussetzung der Abschiebungsandrohung (§§ 50 Abs. 1, 59 Abs. 1 AufenthG). Auch insoweit überwiegt das Suspensivinteresse des Antragstellers und ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs herzustellen [...]