VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 18.05.2010 - 12 A 4190/08 - asyl.net: M17444
https://www.asyl.net/rsdb/M17444
Leitsatz:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Roma im Kosovo; kein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, da chronisch Kranke von den Zuzahlungen im öffentlichen Gesundheitssystem befreit sind. Außerdem waren die Kläger während ihres Aufenthalts im Kosovo offenbar in der Lage, die notwendigen Medikamente auf privatem Wege zu herhalten.

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Gruppenverfolgung, Kosovo, Roma, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, medizinische Versorgung, chronische Erkrankung, Asylrelevanz, nichtstaatliche Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 8, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben weder einen Anspruch darauf, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, noch darauf, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in ihrer Person festgestellt werden.

Nach diesem Maßstab droht den Klägern im Kosovo keine Verfolgung. Eine Verfolgung als Angehörige der Roma durch den Staat oder durch Parteien und Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des kosovarischen Staatsgebiets beherrschen, machen die Kläger nicht geltend. Sie behaupten vielmehr, von Albanern beschimpft bzw. mit Steinen beworfen worden zu sein und verweisen damit ausschließlich auf eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zur ethnischen Minderheit der Roma. Die Annahme einer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG setzt daher voraus, dass der Staat, die Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staates beherrschen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dass keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG).

Soweit die Kläger behaupten, sie seien beschimpft bzw. von Kindern mit Steinen beworfen worden, Hilfe durch die Polizei sei ihnen nicht zuteil geworden, ist ihr Vorbringen - darauf weist die Beklagte zu Recht hin - unsubstantiiert und daher unglaubhaft. Darüber hinaus erreichen die geschilderten Übergriffe nicht die für eine Asylrelevanz zu fordernde Intensität.

Die Kläger können auch nicht mit Erfolg geltend machen, wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Roma einer - mittelbaren - Gruppenverfolgung ausgesetzt zu sein. Nicht anders als eine staatliche Gruppenverfolgung setzt die von den Klägern geltend gemachte Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure voraus, dass jedes im Verfolgungsgebiet lebende Gruppenmitglied wegen der Gruppenzugehörigkeit von Verfolgung betroffen ist. Dies erfordert Verfolgungshandlungen gegen die Gruppe, die so intensiv und zahlreich sind, dass jedes einzelne Mitglied der Gruppe daraus die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit ableiten kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - InfAuslR 2009, 315). Eine solche Verfolgungsdichte, die die Regelvermutung eigener Verfolgung begründet, lässt sich für Angehörige der Roma auf der Grundlage der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel im Kosovo nicht feststellen (so auch VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.02.2010 - A 11 S 331/07 Urt. v. 24.04.2008 - A 6 S 1028/05 -; Sächs. OVG, Urteil vom 19.05.2009 - A 4 B 229/07 - juris). [...]

Dieses Bild wird durch den in das Verfahren eingeführten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2009 - Kosovo - bestätigt. Auch hier wird die ausgesprochen schwierige Lage der Roma im Kosovo dargestellt, aber zusammenfassend ausgeführt, es gebe keine Anzeichen für eine staatliche Verfolgung (S. 10). Für ethnische Roma, die sich während des Krieges nicht ausdrücklich auf die Seite Serbiens gestellt haben oder in gewalttätige Handlungen gegen Kosovo-Albaner verwickelt waren, würden keine Erkenntnisse über eine Gefährdung seitens der albanischen Bevölkerung vorliegen. Roma-Familien, die z.B. während des Krieges den albanischen Nachbarn halfen, Schutz zu finden, würden respektiert. Ihre Stellung sei die gleiche wie die der albanischen Bevölkerung. Eine individuelle Gefährdungslage könne für Roma allerdings dann bestehen, wenn sie sich vor oder während der kriegerischen Auseinandersetzungen in den Augen der albanischen Bevölkerung auf die Seite der Serben gestellt und sich auf Seiten der Serben an den Auseinandersetzungen gegen ihre albanischen Nachbarn beteiligt haben. Einer solchen regional bestehenden individuellen Gefährdung könnten sie jedoch durch Wohnsitznahme in einem anderen Landesteil entgehen (S. 15).

Hiervon ausgehend kann jedenfalls im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht davon ausgegangen werden, dass Angehörige des Volkes der Roma im Kosovo einer Gruppenverfolgung unterliegen (ebenso für Ashkali VGH Bad.-Württ, Urteil vom 24.04.2008 - A 6 S 1026/05 - juris). Da die Kläger nicht zum Personenkreis derjenigen gehören, die im Verdacht der Kollaboration mit der früheren serbischen Verwaltung oder etwa der Teilnahme an Plünderungen stehen, sie nach ihren Angaben in den vorangegangenen Asylverfahren albanisch sprechen und sich zum muslimischen Glauben bekennen, fehlen selbst bei Anlegung des sogenannten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger nach Rückkehr in ihre Heimat dort verfolgt werden könnten.

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK wegen durch die Abschiebung bewirkter Entwurzelung der Kläger zu 3) bis 6) können die Kläger nicht mit Erfolg gegenüber der Beklagten geltend machen. Denn § 60 Abs. 5 AufenthG verweist nur insoweit auf die EMRK, als es um zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse geht (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 -, NVwZ1997, 526 zu § 53 Abs. 4 AuslG). Hindernisse, die einer Vollstreckung der Ausreisepflicht entgegenstehen, weil anderenfalls ein geschütztes Rechtsgut im Bundesgebiet verletzt würde ("inlandsbezogene" Vollstreckungshindernisse), fallen nicht unter § 60 Abs. 5 AufenthG. Sie sind nicht vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Asylverfahren, sondern von den für den Vollzug der Abschiebung zuständigen Ausländerbehörden zu berücksichtigen.

Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]

Zwar kann die Gefahr, dass sich eine vorhandene Krankheit nach Rückkehr des Ausländers in seinen Heimatstaat verschlechtert, weil dort die Behandlungsmöglichkeiten unzureichend sind, ein Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen! Voraussetzung ist allerdings, dass die Gefahr der Krankheitsverschlechterung erheblich und konkret ist. Sie ist erheblich, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde, und konkret, wenn der Ausländer alsbald nach seiner Rückkehr in eine solche Lage geriete, weil er auf die dortigen unzureichenden Behandlungsmethoden angewiesen wäre und auch anderswo keine wirksame Hilfe erlangen könnte (BVerwGE 105, 383, 387).

Dass die Erkrankungen der Kläger zu 2) und 4) sich im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland alsbald wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würden, kann jedoch nicht festgestellt werden.

Aufgrund der aktuellen Erkenntnislage zur medizinischen Versorgung im Kosovo, insbesondere nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 02.02.2009 und 19.10.2009 wird die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung durch ein in der Qualität aus finanziellen Gründen allerdings manchmal eingeschränktes staatlich finanziertes öffentliches dreistufiges Gesundheitssystem gewährleistet, und zwar durch Erstversorgungszentren, Krankenhäuser auf regionaler Ebene und eine spezialisierte Gesundheitsversorgung durch die Universitätsklinik Pristina. Daneben gibt es im Kosovo mittlerweile eine große Anzahl von Privatpraxen und einige privat geführte medizinische Behandlungszentren, die eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten anbieten. Für medizinische Leistungen sowie für bestimmte Basismedikamente hat der Patient Eigenbeteiligungen zu zahlen, die nach vorgegebenen Sätzen pauschal erhoben werden. Von der Zuzahlungspflicht befreit sind jedoch Invaliden und Empfänger von Sozialleistungen, chronisch Kranke, Kinder bis zum 10. Lebensjahr und Personen über 65 Jahre. Die Medikamentenversorgung im staatlichen Gesundheitssystem wird zentral vom kosovarischen Gesundheitsministerium gesteuert, wobei der Medikamentenbedarf in den letzten Jahren mangels ausreichender finanzieller Mittel nicht vollständig gedeckt werden konnte. Im Bedarfsfall sind aber nahezu alle Medikamente über Apotheken beziehbar.

Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, dass für die attestierten chronischen Erkrankungen der Kläger zu 2) und 4), im Kosovo eine erforderliche medizinische Behandlung nicht gewährleistet wäre oder aus finanziellen Gründen scheitern könnte. Als chronisch Kranke sind die Kläger von den genannten Zuzahlungen im öffentlichen Gesundheitssystem befreit. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Kläger Angehörige der Volksgruppe der Roma sind. Ungeachtet einer möglicherweise nicht optimalen medizinischen Versorgungslage im Kosovo ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass die Kläger als Roma die notwendige Behandlung nicht wird erlangen können. Denn das öffentliche Gesundheitssystem steht grundsätzlich allen Ethnien offen (vgl. hierzu auch die Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo an das VG Sigmaringen vom 07.06.2005). Aber selbst wenn, die Kläger zu 2) und 4) die notwendigen Medikamente nur auf privatem Wege und nicht etwa kostenlos erhalten könnten, so waren sie dazu nach ihren eigenen Angaben während ihres Aufenthaltes im Kosovo offenbar in der Lage. [...]