VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 20.01.2010 - 2 A 275/09 MD - asyl.net: M17445
https://www.asyl.net/rsdb/M17445
Leitsatz:

Keine Verfolgungsgefahr für Yeziden im Irak.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Irak, Kurden, Yeziden, religiöse Verfolgung, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgungsdichte, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2,
Auszüge:

[...]

Soweit sich der Kläger darauf beruft, als Jezide im Irak von nichtstaatlichen Akteuren verfolgt zu werden, hat dies nicht die Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG zur Folge.

Denn er muss nicht befürchten, schon allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Jesiden im Irak verfolgt zu werden. Für eine vom irakischen Staat ausgehende (unmittelbare oder mittelbare) Verfolgung religiöser Minderheiten, zu denen auch die Jesiden gehören, bestehen nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln keine Anhaltspunkte. Ebenso wenig lässt sich gegenwärtig feststellen, dass Jesiden im Irak als Gruppe wegen ihrer Religion von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 4 c AufenthG verfolgt werden. Letztere Vorschrift erfasst zwar schon ihrem Wortlaut nach alle nichtstaatlichen Akteure ohne weitere Einschränkung, namentlich also auch Einzelpersonen, sofern von ihnen Verfolgungshandlungen im Sinne des Satzes 1 ausgehen. Nachstellungen nichtstaatlicher Akteure müssen jedoch das Erfordernis der Verfolgungsdichte erfüllen, um eine private Gruppenverfolgung mit der Regelvermutung individueller Betroffenheit annehmen zu können. Daran fehlt es vorliegend. So kommt das OVG Lüneburg in dem (in das Verfahren eingeführten) Urteil vom 19.03.2007 (9 LB 373/06) nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel zu dem Ergebnis, dass alle in diesen Erkenntnismitteln aufgelisteten Gewalttaten gegenüber irakischen Jesiden im Verhältnis zur Gesamtszahl der im Irak lebenden Jesiden letztlich nur einen so geringen prozentualen Anteil ausmachen, dass nicht jeder Angehörige dieser Gruppe aktuell und konkret mit einer Gefährdung seiner Person rechnen müsse. Denn die Zahl der festgestellten Gewalttaten gegenüber Jesiden von höchstens 200 - die Anzahl der Taten, die nicht politisch-religiös motiviert gewesen seien, seien dabei noch nicht in Abzug gebracht - stünden zur Gesamtzahl aller Jesiden im Irak (etwa 400.000) im Verhältnis von 1:2000. Diese Gefährdungslage genüge nicht für die Annahme einer Gruppenverfolgung. In dem Urteil findet sich eine detaillierte Darstellung verschiedener Übergriffe gegen Jesiden, auf die das Gericht zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt. Die Einschätzung, dass die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte gegenwärtig nicht gegeben ist, teilt auch die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung (vgl. VGH Baden Württemberg, U. v. 16.11.2006 - A 2 S 1150/04 -; OVG des Saarlandes, B. v. 05.03.2007 - 3 A 12/07 -; OVG Schleswig-Holstein, U. v. 14.12.2006 - 1 B 67/05 - ). Dem schließt sich das erkennende Gericht nach eigener Prüfung an. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Situation der Jesiden seit der Erstellung der diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Auskünfte in relevanter Weise verändert hat, hat der Kläger weder substantiiert dargetan, noch ergeben sich solche Anhaltspunkte aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln einschließlich der vom Kläger vorgelegten Dokumente.

Eine Erhöhung der Verfolgungsdichte der Jesiden im Irak ist nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12. August 2009 (Stand: August 2009) nicht feststellbar. Der letzte Übergriff auf Jesiden, von dem dort berichtet wird, fand am 15.08.2007 in der Provinz Niniwe statt, wo bei einem Sprengstoffattentat über 400 Angehörige der jesidischen Minderheit zu Tode gekommen sind. Daraus folgt andererseits aber auch, dass nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes im Jahre 2008 und in der ersten Hälfte des Jahres 2009 keine Übergriffe auf Jesiden bekannt geworden sind. Trotz des oben genannten schweren Anschlags fehlt es nach Überzeugung des Gerichts nach wie vor an der erforderlichen Verfolgungsdichte, so dass von einer Gruppenverfolgung der Jesiden im Irak nicht die Rede sein kann (vgl. VG Arnsberg, U. v. 08.05.2009 [13 K 3610/08.A], v. 09.01.2009 [13 K 2947/08.A], v. 28.11.2008 - 13 K 1365/08.A -; VG Saarland, U. v. 12.08.2008 - 2 K 122/08 -; VG Gelsenkirchen, U. v. 26.02.2008 - 18 A K 266/07.A -). Aus den oben genannten Gründen droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak auch nicht eine individuelle Verfolgung wegen Zugehörigkeit zur Gruppe der Jesiden.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten auf Gewährung des Flüchtlingsschutzes im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Erlass des BMI vom 15.05.2007 (M I 4-125 421 IRQ/0), wonach angesichts der Erwicklung in der Rechtsprechung Jesiden aus dem Zentralirak oder dem Süden des Landes wegen einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure die Flüchtlingsanerkennung zuerkannt werden soll. Denn der Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung gilt nur bis zu dem Zeitpunkt, bis die Verwaltungspraxis der Beklagten geändert wird. Dies ist mit einer internen Dienstanweisung vom 13.08.2009 geschehen, wie der Kläger zutreffend ausgeführt (Bl. 77 GA) hat. Der Beklagten ist es unbenommen, ihre Verwaltungspraxis jederzeit zu ändern. Ab diesem Zeitpunkt greift der Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung in Bezug auf den genannten BMI Erlass vom 15. Mai 2007 nicht mehr zugunsten des Klägers ein.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG.

Er ist insbesondere keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i. S. des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in der Neufassung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970) ausgesetzt. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und Art. 15 Buchst, c der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -), der das erkennende Gericht folgt, liegt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts jedenfalls dann vor, wenn der Konflikt die Kriterien des Art. 1 Nr. 1 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (ZP II) erfüllt. Er liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn die Ausschlusstatbestände des Art. 1 Nr. 2 ZP II erfüllt sind, es sich also nur um innere Unruhen und Spannungen handelt wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst, c der Richtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt auch dann vor, wenn die oben genannten Voraussetzungen nur in einem Teil des Staatsgebiets erfüllt sind.

Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, stellen nach dem 26. Erwägungsgrund der Qualifikationsrichtlinie, der bei der Auslegung zu berücksichtigen ist, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre.

Gemäß der Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 17.02.2009 (- C- 465/07 -, juris) ist der Begriff der "individuellen" Bedrohung i.S. des Art. 15 Buchst, c der Qualifikationsrichtlinie dahin zu verstehen, dass er sich auf schädigende Eingriffe bezieht, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 Buchst, c der Richtlinie ausgesetzt zu sein.

Nach diesen Maßstäben dürfte zumindest in Teilgebieten des Irak ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne dieser Regelung vorliegen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 08.08.2007 - A 2 S 229/07 -, NVwZ 2008). Jedoch erreicht die willkürliche Gewalt nicht die für die Annahme einer individuellen Bedrohung erforderliche Gefahrendichte (so auch VG München, Urteil vom 23.06.2009, a.a.O.; VG Saarl., Urteil vom 24.04.2009 - 2 K 285/08 -, juris). Wie bereits ausgeführt, ist davon auszugehen, dass mehr als 99 % der Jesiden von Übergriffen verschont bleiben. Anderes ergibt sich auch nicht den von dem Kläger vorgelegten Unterlagen, insbesondere der Pressemitteilung des Zentralrats der Jesiden vom 09.09.2009, dem UNHCR Positionspapier vom 22.05.2009 und dem Irak Body Count sowie den sonstigen vom Kläger eingereichten Papieren. Der Kläger hat außer seiner Zugehörigkeit zur jesidischen Religionsgemeinschaft auch keine Umstände vorgetragen, die dafür sprechen, dass individuelle, die Gefahren erhöhende Umstände speziell in seiner Person vorliegen. Ausweislich seiner Angaben bei der Anhörung durch die Beklagte ist er selbst von staatlichen Verfolgungsmaßnahmen oder Verfolgungshandlungen Privater im Irak nicht konkret betroffen gewesen (vgl. Bl. 48 d. BA A).

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Hinreichende Anhaltspunkte für eine individuelle Gefährdung liegen aus den o.g. Gründen nicht vor.

Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im Irak begründet ebenfalls kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Insoweit gilt für den Kläger die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG in der Neufassung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970). Gefahren nach Satz 1 oder Satz 2, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine Erlasslage, die einen vergleichbar wirksamen Schutz vor Abschiebungen vermittelt, schließt die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG im Hinblick auf die allgemeine gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Situation und insbesondere die allgemeinen Sicherheitslage aus. Die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 24.06.2008, a.a.O.), nach der die "Erlasslage" hinsichtlich der Abschiebung irakischer Staatsangehöriger einem Abschiebungsverbot nicht entgegen gehalten werden kann, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 der Qualifikationsrichtlinie erfüllt sind, betrifft allein die richtlinienkonforme Auslegung des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Nach der weiterhin in Sachsen-Anhalt bestehenden Erlasslage (Erlass des Ministeriums des Innern des Landes Sachsen-Anhalt vom 27.02.2007 - 42.31-1223f- 68.2 -) haben Iraker, die keine Straftaten begangen haben, weiterhin einen Anspruch auf Erteilung von Duldungen (vgl. hierzu OVG LSA, Urteil vom 04.12.2003 - 1 L 234/02 -).

Im Übrigen kann eine allgemeine Gefahrenlage - unbeschadet der sonst geltenden Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG - nur dann ein zwingendes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen, wenn es dem Kläger mit Blick auf den verfassungsrechtlich unabdingbar gebotenen Schutz insbesondere des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht zuzumuten wäre, in sein Heimatland abgeschoben zu werden. Dies setzt eine extreme Gefahrenlage voraus, also eine Situation, in der der Kläger im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde. Hiervon ist trotz der weiterhin erheblich angespannten Sicherheitslage angesichts der bereits ausgeführten Zahl von Anschlägen nicht auszugehen (ebenso: VG Saarl., Urteil vom 24.04.2009, a.a.O.). [...]