VG Bremen

Merkliste
Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 12.08.2010 - 6 V 593/10.A - asyl.net: M17447
https://www.asyl.net/rsdb/M17447
Leitsatz:

Wegen einer Diabeteserkrankung kommt ein Wiederaufgreifen über die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich des Zielstaats Guinea im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in Betracht. Die Mitteilung des BAMF gemäß § 71 Abs. 5 S. 2 AsylVfG ist daher zurückzunehmen.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Guinea, vorläufiger Rechtsschutz, Asylfolgeantrag, Sierra Leone, Diabetes mellitus, Medikamente, medizinische Versorgung
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 5 S. 2, VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Eilantrag begründet, weil im Hauptsacheverfahren jedenfalls die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch für Guinea ernsthaft in Betracht kommt. Eine konkrete Gefahr für Leib und Leben im Sinne dieser Vorschrift ist für den Antragsteller wegen der von ihm nachgewiesenen Erkrankung an Diabetes mellitus (Typ 2) bereits bezogen auf den Zielstaat Sierra Leone rechtskräftig festgestellt worden (Urteil vom 20.11.2000, Az. 5 K 807/00.A). Es spricht viel dafür, dass dem Antragsteller eine solche Gefahr auch in Guinea drohte.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche Gefahr kann sich trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlungsmöglichkeit auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer die benötigte medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen tatsächlich nicht zugänglich ist (BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -).

Wie der Antragsteller durch Vorlage seines Gesundheitspasses Diabetes im Folgeantragsverfahren nachgewiesen hat, leidet er seit dem Jahr 2000 an einer insulinpflichtigen Diabetes mellitus, Typ 2. Nach dem ebenfalls vorgelegten Verordnungsplan der behandelnden Ärzte vom 25.09.2008 besteht insoweit folgender Bedarf an Medikamenten:

Glibenclamid AL 3,5 TAB, 2 x täglich,

Huminsulin Profil III F PE AMP, 3 x täglich 30 E,

Metformin Sandoz 1000 mg FTA, 2 x täglich,

Simvastatin Heumann 20 mg FTA, 1 x täglich.

Aus den der Kammer vorliegenden Materialien über die medizinische Versorgung von Diabetespatienten in Guinea (Stellungnahme der Missionsärztlichen Klinik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg an das VG Düsseldorf vom 25.09.2006 und Bericht der Deutschen Botschaft vom 18.01.2006) lässt sich weder verlässlich noch hinreichend aktuell entnehmen, ob diese bzw. wirkungsgleiche Medikamente in Guinea allgemein und regelmäßig erhältlich sind. Danach kann man allenfalls in Conakry Insulin kaufen und das auch nur, wenn es z.B. gerade keine Probleme mit der Kühlkette gegeben hat. Auch seien entsprechende Spritzen oder Pens sowie die notwendigen Sticks für Blutzuckermessungen auf dem Markt nur schwer zu besorgen. Außerhalb Conakrys seien die Chancen, in Guinea Medikamente und die genannten Materialien zu erhalten, "katastrophal" (Univ. Würzburg, S. 2).

Vor allem ist aber nicht ersichtlich, dass der Antragsteller über ausreichend Mittel verfügen würde, um in Guinea die erforderlichen Medikamente, die genannten Materialien und die gebotene ärztliche Behandlung legal erwerben zu können. Guinea ist eines der ärmsten Länder der Weit mit einem völlig unzureichenden Gesundheitswesen (Auswärtiges Amt, Länderinformation Guinea, Stand: März 2003). 54 % der Gesamtbevölkerung leben in extremer Armut, staatliche soziale Sicherungssysteme sind nicht vorhanden, so dass allein die Familie für die "normale" guineische Bevölkerung die unabdingbare Basis ihres Überlebens darstellt (vgl. VG Aachen, Urt. v. 03.04.2008, 4 K 1271/06.A; Institut für Afrikakunde, Stn. v. 25.04. und 08.06.2006 an das VG Minden). Mit der Frage, wie dem Antragsteller unter diesen Umständen die notwendige medizinische Versorgung tatsächlich zugänglich sein soll, setzt sich der angefochtene Bescheid des Bundesamtes nicht auseinander. Die Frage bedarf jedoch der Klärung - nunmehr im Hauptsacheverfahren - weil ohne hinreichende tatsächliche medizinische Versorgung eine lebensbedrohende Verschlimmerung der Diabeteserkrankung des Antragstellers drohen kann.

Kommt hiernach ernsthaft in Betracht, dass das Bundesamt das Verfahren über die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von Amts wegen neu aufzugreifen hat, kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG insoweit vorliegen. Auch bedarf es im vorliegenden Eilverfahren keiner Entscheidung darüber, ob von einer guineischen Staatsangehörigkeit des Antragstellers auszugehen ist oder nicht. [...]