VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 18.12.2006 - 21 A 311/05 - asyl.net: M17465
https://www.asyl.net/rsdb/M17465
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines Homosexuellen wegen Verfolgungsgefahr im Irak.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Flüchtlingsanerkennung, homosexuell, Irak, Kurden
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger kann sich wegen seiner Homosexualität auf ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 1 AufenthG berufen, was den Widerruf der Anerkennung als Flüchtling nach § 51 Abs. 1 AuslG ausschließt. [...]

Der Kläger würde wegen seiner unumkehrbaren homosexuellen Veranlagung in seinem Heimatland in die Gefahr geraten, getötet zu werden oder Opfer von schweren körperlichen Misshandlungen zu werden, wobei mit diesen Maßnahmen seine Homosexualität getroffen werden soll.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger unumkehrbar homosexuell ist. Hieran besteht nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung kein Zweifel. Bereits sein Auftreten und seine Körpersprache lassen ihn als Homosexuellen erscheinen. Der Kläger konnte in der mündlichen Verhandlung auch nachvollziehbar sein "outing" und die auch jetzt noch bestehende Partnerschaft mit dem Zeugen ... schildern, mit dem er bereits seit Jahren zusammen lebt. Seine Angaben wurden vom Zeugen ... bestätigt. Beide haben auch am ... beim Standesbeamten im Bezirksamt die förmliche Lebenspartnerschaft geschlossen (Urkunde ...). Bestätigt wird diese Beziehung wie auch die Homosexualität vom Zeugen ..., dem älteren Bruder des Klägers. Dieser hat besonders anschaulich seine damit vor gesellschaftlichen und kulturellen Zwängen zu sehenden Probleme mit dieser Erkenntnis geschildert. Er hat den Kläger zunächst "verstoßen", dann aber wegen seiner Kinder, die den Kläger lieben, und wegen eines erlittenen Herzinfarkts mit dem Kläger wieder Frieden geschlossen. Die Homosexualität wird vom Kläger, der mittlerweile 29 Jahre alt ist, auch derart lange und intensiv offen gelebt, dass von einer Unumkehrbarkeit der homosexuellen Orientierung des Klägers auszugehen ist, insbesondere wenn man zur Kenntnis nimmt, dass nach dem derzeitigen Stand sexualmedizinischer Wissenschaft weder zur Homosexualität erzogen noch verführt werden könne, sie vielmehr aus einer starken biologischen Prädisposition erwachse (Zitat der Äußerung des BVerfG im Urt. v. 17.07.2002, 1 BvF 1/01 in der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage in der BT-Drs. 16/2142 vom 04.07.2006). Der Kläger wird diese Homosexualität, die sein Leben seit Jahren prägt, auch im Irak nicht verbergen können. Er wird bereits sein gesamtes Auftreten und seine Körpersprache kaum erfolgreich verändern können, wird aber durch den gesellschaftlichen Druck, in diesem Alter verheiratet sein zu müssen, der nach den Angaben des Zeugen ... auch bereits seitens der noch im Irak verbliebenen Familienangehörigen durch Nachfragen nach der Verheiratung des Klägers aufgebaut wird, seine Homosexualität nicht erfolgreich verbergen können.

Als erkennbar Homosexueller läuft der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, Opfer von Selbstjustiz Privater, insbesondere fundamentalistischer Muslime, zu werden und keine Hilfe von staatlicher Seite zu erhalten (ebenso für Homosexuelle im Irak: Verwaltungsgericht Köln, Urt. v. 08.09.2006, 18 K 9030/03.A). Die Gutachten des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien (vom 08.09.2006 an VG Köln) sowie des Deutschen Orientinstituts (vom 01.06.2006 an VG Köln) bestätigen in Fällen des Bekanntwerdens homosexueller Aktivitäten übereinstimmend die Gefahr der Selbstjustiz. Diese ist im Irak Ausdruck der dortigen Moral- und Sittenvorstellungen und eine bekannte Reaktion auf die homosexuelle Betätigung von Männern. Es drohen die Tötung des Betroffenen oder extreme Prügelstrafen. Diese Gefahr der Selbstjustiz geht einher mit dem Erstarken fundamentalistisch islamischer Überzeugungen in der irakischen Gesellschaft und der Zunahme fundamentalistisch religiöser Gruppen (vgl. dazu auch den Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak des Auswärtigen Amtes vom 29.06.2006 auf Seite 23 unter 3 h sowie die Hinweise auf die Sicherheitslage in dem Bericht "Irak. Die neue irakische Regierung" des Informationszentrums Asyl und Migration vom 31.07.2006 auf Seite 14). Von einer zunehmenden Verfolgung und Ermordung Homosexueller im Irak ist auch in dem Bericht von Jennifer Copestake vom 06.08.2006, abgedruckt im "The Observer" die Rede, ebenso in dem Bericht von Dennis Klein "Homo-Hölle Irak", zu finden im Internet unter www.queer.de/szene_politik_international_detail.Phq?article_id=4666, unter Hinweis auf den Aufruf von Großajatolla Ali al-Sistani, Schwule "auf die Schlimmste, am meisten Schmerzen einflößende Weise" zu töten. Übereinstimmend wird in den genannten Artikeln und den beiden Gutachten an das Verwaltungsgericht Köln auch berichtet, dass staatliche Stellen in derartigen Fällen keinen Schutz vor Verfolgung bieten (ebenso für Homosexuelle im Irak: Verwaltungsgericht Bremen, Urt. v. 28.04.2006, 7 K 632/05.A unter Hinweis auf ein Gutachten von Brocks vom 04.07.2005 an VG Leipzig, A 6 K 30060/03). [...]