Verheiratete Frauen im Iran, die nach dem herrschenden Staats- und Gesellschaftssystem des Iran ihren Ehemännern schutzlos ausgeliefert sind, wenn diese sie schlagen, bilden eine soziale Gruppe.
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Bei der Klägerin kommt hinzu, dass sie sich auch noch als geschiedene Ehefrau in einer ausweglosen Lage befand, der sie sich nur durch Flucht ins Ausland entziehen konnte, und dass sie bei ihrer Rückkehr Gefahr läuft, als Frau unzumutbaren und sogar lebensbedrohlichen Verhältnissen auch außerhalb ihrer Ehe ausgesetzt zu sein. Dies zeigt die sanktionslose Fortsetzung der Übergriffe ihres Ehemannes, die Jahre nach der Scheidung in dem Brandanschlag sowie einem in der Stellungnahme vom 3.2.2006 wiedergegebenen Vorfall gipfelten und nach der Demonstration im Jahr 2002 erneut drohten. Für ihre damalige Situation im Iran sind folgende Erkenntnisse bedeutsam:
- Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 29.8.2005: "Frauen, die ehelicher oder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, können nach Einschätzung des Auswärtigen Amts nicht uneingeschränkt darauf vertrauen, dass effektiver staatlicher Schutz gewährt wird. ... Der Ehemann hat das Recht zur Scheidung, ohne dass er den Scheidungsantrag begründen muss ... Die Einrichtung der Khol-Scheidung, d.h. Selbstloskauf der Frau aus der Ehe (Art. 1146 ZGB), sowie der Wegfall der Unterhaltspflicht des Mannes bei Verletzung der Ehepflicht der Frau (Art. 1108 ZGB) führt in häufigen Fällen zu Gewalt des scheidungswilligen Mannes in der Ehe, um seine Frau zur Stellung des Scheidungsantrags zu zwingen und dadurch seine Unterhaltspflichten und die Rückzahlung der Brautgabe zu umgehen."
- Schweizerische Flüchtlingshilfe v. 20.1.2004: "Das neue Scheidungsgesetz vom Dezember 2002 gibt Frauen das Recht, aufgrund von zwölf Punkten eine Scheidung einreichen zu können, darunter eheliche Gewalt (z.B. belegt durch ein Arztzeugnis), Drogenabhängigkeit oder Schulden des Ehemannes. Ein Scheidungsverfahren ist sehr kostenintensiv und kann bis zu fünf Jahren dauern. Wenn Frauen die Scheidung einreichen, werden sie oft gezwungen, auf dem Betrag zu verzichten, den ein Mann seiner von ihm finanziell abhängigen Frau bei einer Scheidung zahlen muss. Dadurch fehlt das Startkapital in die Unabhängigkeit. ... Häusliche Gewalt ist häufig und reicht von Schlägen über Vergewaltigungen und Entstellung des Körpers durch Säureverätzungen bis hin zu Ermordungen, sogenannten Ehrentötungen. ... Gemäß islamischem Gesetz wird nicht gegen männliche Mörder vorgegangen. Hunderte von Mädchen verlassen jährlich aufgrund der familiären Zwänge ihr Zuhause, wodurch sie Gefahr laufen, vergewaltigt, ermordet oder Opfer von Menschenhandel zu werden. Viele Frauen wählen den Freitod als Flucht vor familiärer Repression ... Frauen haben kaum Möglichkeiten, rechtlich gegen einen gewalttätigen Ehemann vorzugehen. Wenn eine Frau sich nicht scheiden lassen möchte, dann wird sie von der Polizei oder einem Gericht zu ihrem Ehemann zurück geschickt. Frauenhäuser sind selten und garantieren keine umfassende Sicherheit."
Diese Situation erfüllt die Voraussetzungen einer Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich verheirateter Frauen, die nach dem herrschenden Staats- und Gesellschaftssystem des Iran ihren Ehemännern letztlich schutzlos ausgeliefert sein können (ebenso Urt. eines Kammerkollegen v. 23.1.2006 - A 11 K 13008/04 - und des Berichterstatters vom 9.3.2006 - A 11 K 11112/04 -), aber auch wenn sie die Scheidung erreicht haben und die Schutzlosigkeit mit dadurch beeinflusst wird, dass der Ehemann einflussreich und deshalb zudem keine inländische Fluchtalternative gesichert ist. Die Bewertung als Verfolgung, die an ein asylerhebliches Merkmal anknüpft, gilt für Art. 16a Abs. 1 GG ebenfalls und folgt nicht erst aus § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, wonach eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Denn der im Asylgrundrecht zugrunde gelegte politische Charakter der Verfolgung ist mit dem des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - GFK- und auch dem des § 51 Abs. 1 AuslG deckungsgleich (stRspr des BVerwG, vgl. Urt. v. 18.01.1994, BVerwGE 95, 42 m.w.N.). Der nunmehr an die Stelle des § 51 Abs. 1 AuslG getretene § 60 Abs. 1 AufenthG dient ausdrücklich der Anwendung der GFK und entspricht teilweise der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 (Amtsblatt der Europäischen Union L 304/12) - Qualifikationsrichtlinie -, die bis 10.10.2006 umzusetzen ist und schon jetzt bewirkt, dass sich die Gerichte bei der Auslegung des nationalen Rechts von ihr leiten lassen können (vgl. VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - m.w.N.). Nach der Qualifikationsrichtlinie setzt die Flüchtlingseigenschaft (Art. 13) voraus, dass eine von Akteuren im Sinne des Art. 6 (wie § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG) ausgehende, nicht durch Akteure im Sinne des Art. 7 oder durch internen Schutz nach Art. 8 (vgl. § 60 Abs. 1 S. 4 a.E. AufenthG) abzuwendende gravierende Verfolgungshandlung (Art. 9) an die Merkmale nach Art. 10 (Art. 1 A Nr. 2, Art. 33 Nr. 1 GFK, § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG) anknüpft und kein Erlöschens- oder Ausschlussgrund nach Art. 11 und 12 vorliegt. Für die Annahme einer bestimmten sozialen Gruppe können geschlechterspezifische Aspekte berücksichtigt werden, reichen aber - anders als nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG - allein noch nicht aus (Art. 10 Abs. 1 d Qualifikationsrichtlinie). Insbesondere der soziale Begriff des Geschlechts (gender) kann Frauen vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, in dem ihnen bestimmte Rollen und Identitäten zugewiesen sind, einer bestimmten sozialen Gruppe zugehörig machen (vgl. Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung Teil 1, § 19 RdNr. 69-79). Wegweisend und typisch für die Zuordnung ist dabei die Entscheidung "Islam and Shah" der britischen Lordrichter; hiernach ist der entscheidende, auch im Iran zutreffende Faktor der Ausgrenzung die ungeschützte Position bei institutionalisierter Diskriminierung von Frauen durch Polizei, Gerichte und das gesamte Rechtssystem des Staates (Nachweise bei Marx a.a.O. RdNr. 75-78; vgl. auch schon Gebauer, Asylrechtliche Anerkennung frauenspezifischer Verfolgung, ZAR 1988, 120 m.w.N.).
Ist hiernach das Bundesamt zur Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte und zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG verpflichtet, so ist die Abschiebungsandrohung (vgl. § 34 Abs. 1 AsylVfG) und die Verneinung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG, jetzt Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, aufzuheben (§ 31 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylVfG). Vielmehr dürften nach den über Jahre dokumentierten ärztlichen Berichten auch die Abschiebungsvoraussetzungen nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen, wenn im Fall zwangsweiser Rückkehr mit großer Wahrscheinlichkeit eine rapide Zustandsverschlechterung und eine erneute schwere depressive Episode mit Suizidalität zu erwarten ist (Stellungnahme refugio v. 3.2.2006) und dies auch bezogen auf die Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung oder auf sonstige konkrete Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit gewürdigt wird. [...]