VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 18.08.2006 - 21 K 3768/04.A - asyl.net: M17491
https://www.asyl.net/rsdb/M17491
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Zwangsverheiratung bzw. "Ehrenmordes".

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Libanon, geschlechtsspezifische Verfolgung, Ehrverletzung, nichtstaatliche Verfolgung, Zwangsehe, interne Fluchtalternative, Schutzfähigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c
Auszüge:

[...]

In Anwendung dieser Grundsätze ist der Klägerin als politisch Verfolgter Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren. Sie hat das Gericht davon zu überzeugen vermocht, dass sie den Libanon als bereits Verfolgte verlassen hat; des Weiteren kann das Gericht nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass sie im Falle der Rückkehr wiederum Opfer von Verfolgungsmaßnahmen werden würde.

Das Gericht ist zu der Einschätzung gelangt, dass der Vortrag der Klägerin zu den Ereignissen, die sie zum Verlassen ihrer Heimat bewogen haben, der Wahrheit entspricht. Den Zweifeln, die das Bundesamt hinsichtlich der Glaubhaftigkeit dieser Schilderung geäußert hat, vermag das Gericht nicht beizutreten. [...]

Der von der Klägerin geschilderte Sachverhalt steht ferner in Übereinstimmung mit den der Kammer vorliegenden Berichten zum Auftreten familiärer Gewalt im Libanon. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes ist Gewalt gegen Frauen und Kinder im Libanon ein verbreitetes soziales Problem und wird in der Presse häufig kritisch thematisiert (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Situation im Libanon vom 9. August 2005, S. 22).

Auch amnesty international berichtet unter Berufung auf libanesische Frauenrechtsorganisationen, durch männliche Familienangehörige verübte Gewalt gegen Frauen stelle im Libanon ein alltägliches Problem dar (vgl. Stellungnahme gegenüber dem VG Chemnitz vom 12. Juni 2004).

Im Extremfall kommt es im Libanon - wie auch in anderen Ländern vor allem des nahen und mittleren Ostens, aber auch in anderen Teilen der Welt innerhalb von Bevölkerungsgruppen mit einem auf patriarchalischen Traditionen basierenden Wertesystem - zu sogenannten Ehrenmorden. Amnesty international stellt eine Reihe derartiger Fälle in der Zeit von 2001 bis 2004 dar und gibt die Aussage von Anwälten auf einer im Mai 2001 in Beirut zu diesem Thema durchgeführten Konferenz wieder, es werde im Durchschnitt monatlich eine Frau im Libanon von männlichen Verwandten getötet, weil sie die Ehre der Familie verletzt habe. Nach dem traditionellen Wertekanon weiter Kreise der libanesischen Bevölkerung hängt die Ehre der Familie und damit ihre Stellung in der Gemeinschaft vom moralisch einwandfreien Verhalten der weiblichen Familienmitglieder ab. Verhält sich eine Frau oder ein Mädchen nicht entsprechend dem herkömmlichen Frauenbild, was insbesondere ihr Auftreten in der Öffentlichkeit und ihre sexuelle Integrität anbelangt, so droht der gesamten Familie ein Gesichtsverlust, dem mit allen Mitteln bis hin zur Selbstjustiz begegnet wird. Dies kann etwa dadurch ausgelöst werden, dass eine Frau vor- oder außereheliche sexuelle Beziehungen unterhält, aber auch schon dadurch, dass sie mit Männern ausgeht, sich weigert, den ausgesuchten Mann zu heiraten oder wenn allein der Verdacht besteht, sie habe ihre Jungfräulichkeit verloren (vgl. etwa amnesty international, a.a.O.; Informationssammlung "Ehrenmorde", herausgegeben vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, November 2005).

Nach alledem geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin den Libanon in der Tat in einer Situation verlassen hat, in der sie bereits Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit sowie vor allem massive körperliche Misshandlungen seitens ihrer männlichen Familienangehörigen - insbesondere ihres älteren Bruders - erlitten hatte und auch weiterhin unmittelbar davon bedroht war, wenn sie sich nicht dem Ansinnen der Familie, ihren Cousin zu ehelichen, beugte. Hierbei war selbst die Gefahr der Tötung nicht ausgeschlossen.

Der Klägerin war es nicht zuzumuten, in die erzwungene Heirat einzuwilligen und dadurch weitere Übergriffe zu vermeiden. Dies liefe auf einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin und ihre Menschenwürde hinaus. Denn das Recht auf Heirat zwischen Menschen aus freiem, staatlich unbeeinflusstem Entschluss gehört als eine der wesentlichen Lebensentscheidungen zum Kernbereich persönlicher Freiheit und Menschenwürde. Die freie Wahl des Ehepartners ist nach der Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts eine Grundforderung des Lebens und muss unabhängig von der Rasse, Religion, politischen Überzeugung oder Abstammung aus einer bestimmten sozialen Gruppe sanktionslos möglich sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. April 1992, BVerwGE 90, 127).

Darauf, ob sich dann, wenn die Klägerin sich dem Diktat der Familie gebeugt und die Ehe mit dem Cousin geschlossen hätte, ihre an den vorangegangenen Verlust der Jungfräulichkeit anknüpfenden weiteren Befürchtungen realisiert hätten, kommt es somit nicht mehr an.

Die erlittene und erneut drohende Verfolgung durch die Familienangehörigen ist geeignet, der Klägerin den Schutz der Flüchtlingsanerkennung gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zu vermitteln, weil sie an ein unveräußerliches Merkmal, nämlich ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Libanon, anknüpfte. Diese soziale Gruppe ist auch, aber nicht allein durch das Geschlecht der Klägerin definiert, wobei der Begriff "Geschlecht" in diesem Zusammenhang (§ 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) nicht die rein biologische Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht meint, sondern auf die durch die gesellschaftlichen Regeln bestimmte soziale Rolle abstellt, die den Angehörigen des einen oder anderen Geschlechts zukommt (vgl. hierzu und zum Verhältnis zur Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG: Marx, ZAR 2005 S. 177 ff.).

Die soziale Gruppe, der die Klägerin angehört, lässt sich beschreiben als die Gruppe derjenigen Frauen aus dem Libanon, die zum einen Familien entstammen, welche durch das traditionelle Rollenverständnis von Mann und Frau und den daraus hergeleitenden Ehrbegriff geprägt sind, und die zum anderen sich den Regeln dieser Tradition widersetzt haben, indem sie sich etwa geweigert haben, einen von der Familie bestimmten Mann zu heiraten, oder indem sie sexuelle Kontakte außerhalb einer Ehe aufgenommen haben. Das Gericht hält diese Merkmale für hinreichend konkret und trennscharf, um eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG innerhalb der libanesischen Bevölkerung zu definieren. Die so umgrenzte Minderheit von Frauen, die aus sich aus dem traditionellen Rollenbild ihrer Bevölkerungsgruppe gelöst haben und nunmehr massiven Bedrohungen, körperlichen Misshandlungen und Gefahren bis hin zur Todesfolge seitens ihrer männlichen Familienangehörigen ausgesetzt sind, stellt innerhalb der sehr inhomogenen libanesischen Gesellschaft, in der sich zwischen liberaler Lebensgestaltung westlicher Prägung und dem Eingebundensein in enge Religions- und Stammesregeln ein breites Spektrum an Lebensstilen zeigt, eine ausgegrenzte Personengruppe dar. Durch die Neuregelung in § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG wird diese nunmehr vom Anwendungsbereich der Abschiebungsschutzbestimmung erfasst.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren - wie hier den Familienangehörigen - ausgehen, wenn der Staat oder die ihn bzw. wesentliche Teile des Staatsgebiet beherrschenden (sowie auch internationalen) Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, falls nicht eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht. Im Falle der Klägerin kommt es mangels sonstiger zu ihrem Schutz in Betracht kommender Akteure auf die Schutzfähigkeit und -bereitschaft der staatlichen Organe im Libanon an. Die hierzu vorliegenden Erkenntnisse lassen für das Gericht nur den Schluss zu, dass die Klägerin auf eine Schutzgewährung durch libanesischen Behörden nicht verwiesen werden kann. Dies gilt bereits ungeachtet der in Bezug auf die Sicherheitslage eingetretenen massiven Verschlechterung der Situation während der letzten Wochen durch die kriegerischen Handlungen im Libanon, insbesondere die israelischen Luftangriffe, welche in Teilen des Landes und auch der Stadt Beirut das öffentliche Leben und das Funktionieren der staatlichen Verwaltung zumindest stark beeinträchtigt haben. Denn schon in der Zeit davor konnte die Klägerin nicht mit wirksamer staatlicher Hilfe rechnen. Im wesentlichen übereinstimmend gehen die hierzu vorliegenden sachverständigen Äußerungen davon aus, dass es im Libanon für Frauen keinen effektiven Schutz vor körperlichen Übergriffen durch männliche Angehörige gibt. Amnesty international berichtet unter Berufung auf die libanesische Frauenrechtsorganisation LECORVAW (Lebanese Council to Resist Violence Against Women), Gewalt in der Familie werde allgemein als Privatangelegenheit wahrgenommen und die libanesische Polizei mische sich in der Regel nicht in solche "Familienstreitigkeiten" ein. Selbst in den seltenen Fällen, in denen sich Frauen schutzsuchend an die Behörden wendeten, werde in der Regel versucht, das Problem dadurch zu lösen, dass die Frau bzw. das Mädchen wieder in die Obhut des Ehemannes bzw. des Vaters zu geben. Dieser sei nach Auffassung der Behörden als Familienoberhaupt für die Regelung der Angelegenheit zuständig. Im übrigen sei der Schutz der "Familienehre" für die männlichen Familienangehörigen sehr wichtig und habe Vorrang vor der Einhaltung staatlicher Gesetze. Die zu Tätern gewordenen Männer hätten sich nicht selten nach der Begehung einer so motivierten Straftat ("Ehrenmord") den Behörden gestellt und sich auf das Motiv der Rettung der Familienehre berufen. Zu einem vorherigen Eingreifen und einem Verhindern solcher Straftaten seien die Gerichte und Behörden jedoch nicht bereit bzw. in der Lage (vgl. amnesty international, Stellungnahme gegenüber dem VG Chemnitz vom 12. Juni 2004).

Das Auswärtige Amt bestätigt in seiner knappen Auskunft auf die auch der Äußerung von amnesty international vorangegangene gerichtliche Anfrage, welcher gleichfalls ein Fall behaupteter Übergriffe der Familie gegenüber einer sich nicht rollenkonform verhaltenden jungen Frau im Libanon zugrunde lag, bei familiären Streitigkeiten könne die dortige Klägerin nicht in jedem Falle mit effektivem Schutz durch die libanesischen Behörden rechnen (vgl. Auskunft an das VG Chemnitz vom 24. Juli 2003).

Auch das Deutsche Orient-Institut äußert sich in seinem zum selben gerichtlichen Verfahren erstellten Gutachten (bei erheblichen Zweifeln an der Glaubhaftigkeit der Schilderung der Klägerin in jenem Einzelfall) dahin, es sei sicher richtig, dass die libanesische Polizei sich in solche Familienangelegenheiten "nicht hineinhängen würde" (vgl. Uwe Brocks, DOI, Stellungnahme vom 27. Oktober 2003 gegenüber dem VG Chemnitz).

Diesen Stellungnahmen entspricht auch die Äußerung der Klägerin des vorliegenden Verfahrens in der mündlichen Verhandlung auf die diesbezügliche Frage des Einzelrichters, man gehe im Libanon "wegen solcher Sachen nicht zur Polizei." Sie habe dort nie gehört, dass sich jemand mit der Polizei in Verbindung gesetzt hätte, wenn er von einem Familienangehörigen geschlagen worden sei. Hätte sie dieses versucht, wäre alles noch viel schlimmer geworden.

War die Klägerin somit den Übergriffen ihrer Familienangehörigen, insbesondere ihres Bruders, im Libanon ohne wirksamen Schutz ausgeliefert, so stand ihr dort auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Angesichts der Aufsplitterung der Bevölkerung des ländlichen Libanon nach Stammes- und Religionszugehörigkeit sowie im Hinblick auf die eingeschränkten Möglichkeiten der Klägerin, als alleinstehende Frau ohne hinreichende Schulbildung oder gar Berufsausbildung ihren Lebensunterhalt zu sichern, käme von vornherein nur eine Wohnsitznahme in einem anderen Teil der Großstadt Beirut oder einer der wenigen anderen größeren Städte in Betracht, wo die Klägerin - wie zuvor - eine Tätigkeit als Haushaltshilfe oder sonst im Dienstleistungsbereich hätte finden können. Innerhalb dieser städtischen Zentren könnte sich die Klägerin nach der Einschätzung des erkennenden Einzelrichters allenfalls eine Zeitlang, nicht jedoch auf Dauer vor ihrer Familie verborgen halten. Da die weitverzweigten Großfamilien kurdischer Ethnie im Libanon im allgemeinen einen vergleichsweise engen Zusammenhalt pflegen, teilt das Gericht die Erwartung der Klägerin, dass sie früher oder später von Familienangehörigen entdeckt worden wäre. Die bereits zitierte Stellungnahme von amnesty international vom 12. Juni 2004 gegenüber dem VG Chemnitz, a.a.O. S. 5, geht darüber hinaus sogar davon aus, dass schon wegen der geringen Größe des Libanon eine wegen Verletzung der Familienehre von ihren Angehörigen gesuchte Frau sich landesweit nicht dauerhaft vor drohenden Übergriffen ihrer Angehörigen in Sicherheit bringen kann. Es wird die Äußerung eines Teilnehmers an einer Konferenz über sogenannte Ehrverbrechen in Beirut wiedergegeben, wonach im Falle solcher Fluchtversuche von Mädchen oder Frauen, die von ihrer Familie verdächtigt würden, die Familienehre durch ihr Verhalten verletzt zu haben oder die sich einer Zwangsheirat entziehen wollten, die Ausreißerinnen von männlichen Familienangehörigen in allen Teilen des Landes aufgespürt würden.

Der danach vorverfolgt ausgereisten Klägerin ist eine Rückkehr in den Libanon in absehbarer Zeit nicht zuzumuten. Denn es kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass sie dort künftig erneut Opfer von Verfolgungsmaßnahmen der oben beschriebenen Qualität wird. [...]