VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 10.01.2007 - A 1 K 11055/05 - asyl.net: M17515
https://www.asyl.net/rsdb/M17515
Leitsatz:

Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 60 Abs.1 AufenthG im Folgeverfahren aufgrund drohende Gefahr einer Zwangsbeschneidung,

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Attest, Gutachten, Togo, nichtstaatliche Verfolgung, Genitalverstümmelung, Vorverfolgung, psychische Erkrankung, Zwangsehe, Ewe, Christen, Haussa, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Mädchen, Änderung der Rechtslage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 71 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist unbegründet, soweit sie auf die Verpflichtung der Beklagten zur Asylanerkennung der Klägerin gerichtet ist. Insoweit steht der begehrten Asylanerkennung die Drittstaatenregelung (§ 26a AsylVfG) wegen der von der Klägerin nicht substantiiert dargelegten, behaupteten Einreise auf dem Luftweg entgegen. Diesbezüglich wird auf die entsprechende Begründung im Urteil zum Asylerstantrag der Klägerin verwiesen.

Die Klage ist jedoch begründet, soweit sie auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG gerichtet ist. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines Folgeverfahrens sind hier gegeben. Die Klägerin hat mit dem Folgeantrag vom 04.03.2005 ein psychiatrisches Attest vom 17.02.2005 innerhalb der Dreimonatsfrist vorgelegt, aus dem sich möglicherweise Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit der im Asylerstverfahren verneinten behaupteten Verfolgung ergeben können (§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 Ziff. 2 VwVfG). Außerdem hat sich zum 01.01.2005 durch Einführung des § 60 Abs. 1 Satz 3 u. Satz 4 AufenthG die Rechtslage nachträglich zugunsten der Klägerin geändert (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Denn durch diese Neuregelung ist insbesondere klargestellt worden, dass nicht nur eine Verfolgung wegen des Geschlechts nunmehr ausdrücklich als anerkennungswürdig gilt, sondern insbesondere auch, dass eine Verfolgung von nichtstaatlicher Seite privater Dritter ausgehen kann, was bislang in der Rechtsprechung zu der im Erstverfahren noch anzuwendenden Vorgängervorschrift des § 51 Abs. 1 AuslG und in Anknüpfung daran auch im Asylerstbescheid unter anderem verneint worden war. Von daher kommt es nicht mehr entscheidend darauf an, dass die Klägerin die Geburtsurkunde, aus der sich ergibt, dass ihre damals vom Bundesamt als unglaubhaft eingestuften Altersangaben zutreffen, nicht innerhalb der Dreimonatsfrist vorgelegt hat, da sie ausweislich des Übersetzervermerks vom 23.08.2003 offenbar schon längst vor Stellung des Folgeantrags über diese Urkunde verfügte, sie also schon im Asylerstverfahren hätte vorlegen können.

Die Beklagte ist verpflichtet, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung der Klägerin nach Togo festzustellen. Das Gericht ist aufgrund der vorgelegten Dokumente und insbesondere auch aufgrund der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung sowie aufgrund der im Asylerstverfahren gemachten Angaben und der vorliegenden Erkenntnismittel der Überzeugung, dass die Klägerin seinerzeit tatsächlich vor einer ihr drohenden Zwangsbeschneidung durch ihren Vater aus Togo fliehen konnte, so dass ihr wegen glaubhaft gemachter Vorverfolgung der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugute kommt. Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist das Gericht der Überzeugung, dass nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr zwar nicht mit einer Zwangsbeschneidung, wohl aber mit Repressalien des in seiner Ehre verletzten Vaters von asylerheblichem Gewicht in Form von Misshandlung, Körperverletzung oder gar Tötung zu rechnen hat. (Die zu Art. 16a GG entwickelte Rechtsprechung zum herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab galt schon bisher nach der Rechtsprechung auch für das Abschiebungshindernis nach § 51 Abs. 1 AuslG - siehe BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 1.94 = InfAuslR 1995, 24 - und gilt ebenso für das Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 1 AufenthG - siehe VGH Bad.-Württ, Urt. v. 05.04.2006 - A 13 S 302/05 unter Verweis auf Heilbronner, AuslR, Rn. 34 zu § 60 AufenthG u. Marx, AsylVfG, Kommentar 2005, Rn. 286 zu § 60 AufenthG; siehe auch Art. 4 Abs. 4 der EU - Qualifikationsrichtlinie vom 29.04.2005, wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht worden ist, einen ernsthaften Hinweis darauf darstellt, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird).

Die Überzeugung des Gerichts beruhtauf folgenden Erwägungen:

Durch die mittlerweile vorgelegte Geburtsurkunde der Klägerin hat sich herausgestellt, dass ihre Altersangaben, die vom Bundesamt im Asylerstverfahren noch bezweifelt worden waren und deshalb auch als Grund für die Annahme der Unglaubhaftigkeit der Klägerin genannt worden waren, tatsächlich zutrafen. Ausweislich der Geburtsurkunde ist sie 1984 geboren, war also seinerzeit bei der Anhörung im Asylerstverfahren im Jahr 2002 tatsächlich erst 16 Jahre alt. Soweit die Klägerin damals angegeben hatte, als ihre Mutter im Jahr 1999 gestorben sei, sei sich 11 Jahre alt gewesen, beruhte dies ersichtlich auf einem Irrtum. Denn dann wäre sie bei ihrer drei Jahre später erfolgenden Anhörung im Jahre 2002 tatsächlich erst 14 Jahre alt gewesen, wogegen ausweislich der damaligen Entscheidung im Asylerstverfahren schon der äußere Augenschein hinsichtlich ihres Alters sprach, da sie offenbar älter wirkte. Aus der Geburtsurkunde ergibt sich auch, dass ihr Vater Angehöriger des Volksstamms der Haussa, also der muslimisch geprägten Volksgruppe in Togo ist. Bei dieser vorzugsweise im Norden des Landes angesiedelten Ethnie aber findet schon ausweislich der Begründung des Asylerstbescheids vor allem die Praxis der genitalen Verstümmelung statt. Von daher erscheint es durchaus plausibel, dass der Vater, auch wenn er mittlerweile in einem Stadtteil von Lomé im Süden des Landes lebte, an einer solchen Praxis der Beschneidung festhielt. Die Klägerin hat auch in der mündlichen Verhandlung überzeugend und durch eine spontane Geste angegeben, dass die Schwestern des Vaters offenbar auch Mosleminnen waren, die den Haussa angehörten, da sie die dafür typischen Gesichtsschleier bzw. Kopftücher trugen. Die Angaben der Klägerin hält das Gericht auch für glaubhaft, da die Klägerin schon im Asylerstverfahren, aber vor allem auch in der mündlichen Anhörung im Asylfolgeverfahren vor Gericht klare, widerspruchsfreie, nicht gesteigerte, lebensnahe, durch Details und psychologisch nachvollziehbare Hintergründe abgerundete in sich stimmige Angaben gemacht hat, auf Frage klar und ohne Umschweife geantwortet hat und auch Gedächtnislücken offengelegt hat und nicht etwa versucht hat, diese durch einen an der vermeintlich durch den befragenden Richter erwarteten Antwort orientierten, frei erfundenen Sachvortrag zu ergänzen. Auch ihr gesamtes Auftreten in der mündlichen Verhandlung war ersichtlich nicht dadurch geprägt, dass sie etwa versuchte, zielgerichtet und verfahrenstaktisch hier günstige Antworten zu geben um etwa mit einer bloß vorgeschobenen Verfolgungsgeschichte eine ihr in Wahrheit gar nicht drohende Verfolgung vor drohender Beschneidung plakativ und als konstruierten Asylgrund in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr wirkte sie scheu, schüchtern und sehr zurückhaltend. Offenbar leidet sie ausweislich der vorgelegten Atteste auch an erheblichen Ängsten und Depressionen, die sogar zweimal schon zu Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken zwecks Krisenintervention geführt haben, also schon deshalb wohl kaum aufgesetzt und konstruiert oder vorgeschoben wirken. Bedenkt man, dass die Klägerin im Alter von 16 Jahren infolge der von ihr geschilderten Ereignisse gezwungen war, von heute auf morgen ihr Heimatland zu verlassen und sich in eine ihr völlig fremde Umgebung zu begeben und dass sie nachhaltig verunsichert und verstört hat, dass der Vater, zu dem sie über längere Zeit hinweg einen vertrauensvollen Umgang und eine entsprechende Vertrauensbeziehung aufgebaut hatte, sich dann schlagartig als derart egoistisch und rücksichtslos entpuppte, dass er sie versuchte, in eine Falle zu locken, um sie dann zwangsbeschneiden zu lassen, so verwundert eine solche psychische Entwicklung nicht. Auch wenn die Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen ganz offenbar den Gewaltakt einer zwangsweisen Beschneidung nicht selbst erlebt hat und dadurch nicht traumatisiert sein kann, können schon diese äußeren Umstände zu solchen Depressionen und Störungen führen, wozu sicher bei einer jungen Afrikanerin das Gefühl einer Entwurzelung im Exil verstärkend hinzukommen kann. [...]

Auch wenn es vom heutigen Zeitpunkt angesichts des fortgeschrittenen Lebensalters der Klägerin und des Umstands, dass sie hier in Deutschland offenbar schon längere Zeit mit einem deutschen Mann zusammen ist, den sie sogar heiraten will, wenig wahrscheinlich erscheint, dass sie im Falle ihrer Rückkehr von ihrem Vater noch einer zwangsweisen Beschneidung unterworfen werden würde, weil sie durch die genannten Umstände mittlerweile ihren aus Sicht des Vaters einstens als junge Schülerin innegehabten "Marktwert" als Objekt für eine vom Vater nach den ganzen Umständen wohl allein aus wirtschaftlichen Gründen geplante Zwangsverheiratung verloren haben dürfte, besteht doch die Gefahr, dass der Vater, der womöglich schon einen Brautpreis für sie kassiert hatte, sich an ihr für die ihm durch ihre Flucht zugefügte Verletzung seiner Ehre und seines Ansehens mit wie auch immer gearteten Gewaltmaßnahmen rächen wird. Immerhin gab sie an, dass der Vater später auch noch ein paar Mal bei der Tante aufgetaucht ist, um bei dieser Gelegenheit ihren Verbleib zu erforschen. Vor der Rache dieses Mannes wäre sie aller Voraussicht nach in Togo auch nicht sicher. Sie hat überzeugend dargelegt, dass es ihr nicht möglich ist, einfach andernorts sich niederzulassen, weil es dem Vater wohl durchaus gelingen würde, ihren Aufenthalt auch in einem Ort wie Lomé zu ermitteln. Insoweit muss man auch berücksichtigen, dass Togo ein geografisch sehr kleines Land ist und dass die Klägerin sich als Angehörige des Ewestamms wohl allenfalls im Süden des Landes innerhalb der Ewestammesstrukturen bewegen könnte. Da sie keine Ausbildung und auch sonst keine Grundlage für eine selbständige Überlebensmöglichkeit hätte und ihr selbstverständlich ein Überleben als Prostituierte nicht zuzumuten ist, fehlt es auch an einer inländischen Fluchtalternative. Da der Vater als Händler wohl viele Kontakte und auch Mittelsmänner hat und offenbar wenn schon nicht vermögend, so doch wirtschaftlich durchaus so wohlhabend war, dass er der Klägerin immer wieder Geldgeschenke machen konnte, ein eigenes Haus besaß und wohl auch die vier Schwestern unterhalten kann, erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass er zumal dann, wenn er als Händler auch häufig im Nachbarland in Ghana verkehrt, durchaus Mittel und Wege hat, von einer Rückkehr und dem weiteren Verbleib der Klägerin Kenntnis zu erlangen. Die von der Klägerin für diesen Fall angeführte Angst vor einem Übergriff des Vater erscheint auch deshalb glaubhaft, weil die Klägerin seinerzeit wohl durchaus sonst ohne Weiteres nach Togo hätte zurückkehren können, um dort ihren deutschen Verlobten zu heiraten, was ihr allerlei formale Schwierigkeiten erspart hätte. Das hat sie aber gerade aus Angst vor einem Übergriff des Vaters offenbar nicht getan. Schließlich zeigt auch ihre Angstreaktionen auf jeglichen Gedanken an eine Rückkehr und auch ihre Reaktion in der mündlichen Verhandlung auf die Frage nach dem Grund für ihre seelische Erkrankung, dass hier die Angst der Klägerin wohl nicht völlig grundlos ist, sondern einen realen Hintergrund hat und vor allem nicht vorgetäuscht oder vorgespiegelt wird.

Soweit die Klägerin ausweislich des Attests der Psychiaterin dieser gegenüber angeblich geäußert hat, sie sei auch in Ghana von dem Vater bzw. seiner Familie aufgespürt worden und habe mit Hilfe ihrer Familie fliehen können, stellt dies zwar ein Widerspruch zu ihren sonstigen Angaben dar, in denen davon nicht die Rede war. Soweit ist aber zu berücksichtigen, dass hier sprachliche Verständigungsschwierigkeiten zum Missverständnis geführt haben können und dass die Psychiaterin insoweit auch nicht die Aufgabe und Zielsetzung hatte, hier im Detail Fakten zu erheben. Es kann insofern durchaus sein, dass die Klägerin hier geäußert hat, sie habe auch in Ghana befürchtet, vom Vater aufgespürt und verfolgt zu werden, so wie sie es in der mündlichen Verhandlung auch gesagt hat. Hätte sie hier von Anfang an ihre Verfolgung durch die Behauptung, auch in Ghana aufgespürt worden zu sein, überdramatisieren und in den Vordergrund stellen wollen, so hätte wohl nichts näher gelegen, als dies auch im Asylerstverfahren ebenso wie im Asylfolgeverfahren so zu erwähnen. Dafür war jedoch im gesamten Vorbringen der Klägerin nichts ersichtlich.

Schließlich ist auch davon auszugehen, dass es für die Klägerin von vornherein keine ernsthafte Alternative darstelle, sich an die Polizei mit der Bitte um Schutz zu wenden. Angesichts der Auskunftslage scheint es durchaus nachvollziehbar, wenn sie angibt, dass die Polizei sich in solche innerfamiliären Angelegenheiten und schon gar nicht gegenüber dem leiblichen Vater einer minderjährigen Frau zu deren Gunsten mit allen staatlichen Schutzmöglichkeiten einsetzen würde. (Insoweit sei auf das Urteil des Gerichts v. 26.01.2005 (A 1 K 11012/03 - juris) verwiesen). [...]