Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Zwangsverheiratung bzw. (Blut-) Racheakten der Familie.
[...]
Im übrigen hat die Klage Erfolg. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG sind gegeben. Die dem ursprünglichen Bescheid des Bundesamtes vom 16. Dezember 1988 zugrunde liegende Sachlage hat sich nachträglich zugunsten der Klägerin geändert. Dass die Klägerin mit ihrem Cousin in der Türkei zwangsverheiratet werden sollte, war von ihrer Familie erst danach beschlossen worden, nämlich als die Klägerin das 15. Lebensjahr vollendet hatte. Die Tatsache, dass die Klägerin davon seit dieser Zeit wusste, steht der Einhaltung der Dreimonatsfrist nach § 51 Abs. 3 VwVfG nicht entgegen. Bei kontinuierlich sich entwickelnden Sachverhalten kann von einer positiven, die Dreimonatsfrist in Gang setzenden Kenntnis des Wiederaufgreifensgrundes im Sinne des § 51 Abs. 3 VwVfG erst dann gesprochen werden, wenn der Betroffene hinreichende Gewissheit hat, es liege nunmehr eine entscheidungserhebliche Veränderung der Sachlage vor. Dass sich die (latente) Gefahr einer Eheschließung gegen den Willen der Klägerin tatsächlich verwirklichen würde, wurde für die Klägerin erst deutlich, als die Rückkehr der Familie in die Türkei am 27. Oktober 2004 anstand. Sollte die Klägerin bis dahin noch die Hoffnung gehabt haben, ihrem Schicksal entgehen zu können, so zerschlug sich diese Hoffnung der Klägerin endgültig, als die Mutter der Klägerin mit ihrer Anzeige bei der Ausländerbehörde, die Tochter sei entführt worden, und der dadurch erzwungenen Verschiebung des Fluges keinen Zweifel mehr an der Durchsetzung des Entschlusses der Familie ließ, die Klägerin in der Türkei zu verheiraten. Ihren Asylfolgeantrag hat die Klägerin damit am 4. November 2004 rechtzeitig gestellt.
In der Person der Klägerin liegen die Voraussetzungen des § 60 AufenthG vor. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in seiner einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Schutz nach dieser Vorschrift wird gewährt, wenn dem Betroffenen bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der in Satz 1 genannten Merkmale Rechtsverletzungen durch einen Akteur im Sinne von Satz 4 der Vorschrift in seinem Herkunftsstaat drohen, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in sein Herkunftsland zurückzukehren. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine solche sog. geschlechtsspezifische Verfolgung kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Die Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG bezieht sich auf "eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1", also auch auf eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Dazu gehört nach Satz 3 der Vorschrift als Unterfall auch die geschlechtsspezifische Verfolgung.
Der Klägerin droht bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1, Satz 3, Satz 4 Buchstabe c AufenthG. Das Gericht ist aufgrund der sich aus den Asyl- und Ausländerakten ergebenden Fakten sowie der in der mündlichen Verhandlung erfolgten Anhörung der Klägerin davon überzeugt, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr damit rechnen muss, (Blut-) Racheakten ihrer Familie ausgesetzt zu sein, weil sie sich der zwangsweisen Verheiratung durch ihre Familie widersetzt und zwischenzeitlich von ihrem Lebensgefährten, mit dem sie religiös verheiratet ist, zwei Kinder bekommen hat. Dem glaubhaften Vortrag der Klägerin zufolge entstammt sie einer streng gläubigen Familie. Diese Aussage wird belegt durch die Tatsache, dass ihre Mutter nach dem Unfalltod ihres Ehemannes, des Vaters der Klägerin, ihren damaligen Schwager, den Bruder des Verstorbenen, religiös geheiratet hat. Das entspricht der Tradition und den Moralvorstellungen konservativ-religiöser Familien. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ferner detailliert dargelegt, in welch engen, von den Brüdern genau kontrollierten Bahnen ihr Leben verlief, in ihrem 15. Lebensjahr, als die Klägerin nach eigenen Angaben "reif war für die Ehe", wurde sie ihrem in der Türkei lebenden Cousin ... versprochen. Im Zusammenhang mit einem ersten Versuch der Familie, sie zur Eheschließung in die Türkei zu bringen, beging die Klägerin einen Selbstmordversuch. Sie war deshalb, was durch ärztliche Bescheinigung belegt ist, im September 1999 acht Tage lang in vollstationärer Behandlung in der Westfälischen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Mit welcher Entschlossenheit die Familie ihre Pläne mit der Klägerin durchzusetzen versuchte, zeigt sich daran, dass die Mutter der Klägerin die Polizei einschaltete und gegenüber der Ausländerbehörde behauptete, ihre Tochter sei von der Familie des (jetzigen) Lebensgefährten entführt worden, und schließlich zur Klärung des Aufenthaltsortes der Klägerin die Stornierung des Rückfluges erreichte. Die Familie schreckte auch nicht davor zurück, die Wohnung der in ... lebenden Schwester des Lebensgefährten zu überfallen und zu demolieren, nur um herauszufinden, wo sich die Klägerin befand. Wie Frau ... in der mündlichen Verhandlung anschaulich erzählt hat, musste sie zu ihrem Schutz die Polizei rufen. Unter welchem Druck sich auf der anderen Seite die Klägerin befand, wird anhand des ärztlichen Attestes des Anstaltsarztes der JVA ... vom 10. November 2004 deutlich, wo sich die Klägerin in Abschiebehaft befand. Er bescheinigt der Klägerin eine psychische Dekompensation mit Suizidalität. Dass arrangierte Ehen bzw. Zwangsverheiratungen gerade in den traditionell und streng patriarchalisch strukturierten Familien aus den ländlich-konservativen Gebieten der Zentral- und Osttürkei nach wie vor weit verbreitet sind, entspricht der Erkenntnislage des Gerichts (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes (508-516.80/3 TUR) vom 11. Januar 2007, Stand: Dezember 2006; Serafettin Kaya, Auskunft an das VG Bremen vom 2. Januar 2001).
Der Klägerin, die sich der Zwangsverheiratung durch die religiöse Eheschließung mit widersetzt hat, droht im Falle ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Blutrache ihrer Familie. Sogenannte "Ehrenmorde", d.h. die Ermordung von Frauen oder Mädchen, die "schamlosen Verhaltens" verdächtigt werden, gibt es nach den oben genannten Erkenntnissen hauptsächlich im Südosten der Türkei nach wie vor. Das gilt im vorliegenden Fall erst recht angesichts der aktenkundigen Gewalttätigkeit der Brüder der Klägerin.
Zu einem effektiven Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c AufenthG ist der türkische Staat nicht in der Lage. Denn obwohl im neuen türkischen Strafgesetzbuch keine Privilegierung solcher Ehrenmorde mehr enthalten ist, sondern im Gegenteil eine Strafverschärfung, so sprechen die vorliegenden Erkenntnisse doch eine deutliche Sprache, was die Grenzen dieser Maßnahmen und der Einwirkungsmöglichkeiten betrifft. Dem Lagebericht zufolge bleibt trotz rechtlicher und praktischer Initiativen zur Lösung des Problems der Diskriminierung und der häuslichen Gewalt beides in der Praxis ein großes Problem. Die gesellschaftliche Entwicklung hinkt gerade in den ländlich-konservativen Gebieten der Türkei noch weit hinter den letzten gesetzlichen Entwicklungen her.
Der Klägerin steht im jetzt maßgeblichen Zeitpunkt der mündlicher) Verhandlung kein interner Schutz im Westen der Türkei offen. Für die Beurteilung dieser Frage ist Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie - RL -) zugrunde zu legen. Solange und soweit die Richtlinie nicht in nationales Recht umgesetzt ist, ist sie seit dem 11. Oktober 2006 unmittelbar anzuwenden und § 60 Abs. 1 Salz 1 AufenthG dementsprechend richtlinienkonform auszulegen. Nach Art. 8 Abs. 1 RL setzt die interne Schutzmöglichkeit voraus, dass am Zufluchtsort Verfolgung durch die in Artikel 6 genannten Akteure nicht droht und vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Der Antragsteller muss am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden, d.h. es muss zumindest das Existenzminimum gewährleistet sein. Fehlt es an einer Existenzgrundlage, ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben. Für die Frage, ob der Antragsteller vor Verfolgung sicher ist und eine ausreichende Lebensgrundlage besteht, kommt es nach Art. 8 Abs. 2 RL allein auf die allgemeinen Gegebenheiten im Zufluchtsgebiet und die persönlichen Umstände des Antragstellers an (vgl. Hinweise des Bundesministeriums des Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Abl. EU L 204 vom 30. September 2004, S, 12 ff.) in der Bundesrepublik Deutschland vom 13. Oktober 2006, S. 6/19; VG Stuttgart, Urteil vom 29. Januar 2007 - A 4 K 1877/06 juris).
Danach ist der Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände ein Ausweichen in die westlichen Landesteile der Türkei nicht zumutbar, wobei offen bleiben kann, ob sie dort überhaupt vor ihrer Familie sicher wäre. Zwar ist das Gericht davon überzeugt - anders als die Klägerin aus nachvollziehbaren Gründen in der mündlichen Verhandlung glauben gemacht hat - dass die Klägerin die türkische Sprache fließend spricht. Gleichwohl handelt es sich bei der Türkei um ein für sie fremdes Land, nachdem sie ihre Heimat bereits im Alter von sechs Jahren verlassen hat. Die Schule hat sie dort nie besucht. In Deutschland mag sie die Schule abgeschlossen haben, eine Ausbildung hat sie jedoch nicht gemacht. Sie ist außerdem Mutter eines Säuglings und eines 20 Monate alten Kindes. Schon vor diesem Hintergrund, zudem noch ohne jegliche familiäre Unterstützung, stellt sich eine Integration in die Lebensverhältnisse in Westen der Türkei als überaus schwierig dar. Es kommt entscheidend hinzu, dass die Klägerin ausweislich des amtsärztlichen Gutachtens vom 20. März 2007 an einer ausgeprägten psychischen Anpassungsstörung leidet und es im Rahmen dieser schwerwiegenden Erkrankung in der Vergangenheit mehrmalig zu krisenhaften Episoden akuter Suizidalität sowie schwerer depressiven Störungen und generalisierter Angststörungen gekommen ist. Nach Einschätzung des Amtsarztes ergibt sich aus einer Gesamtbetrachtung der vorliegenden geistigen und körperlichen Gesundheitsstörungen eine deutlich reduzierte Fähigkeit der Klägerin zur Teilhabe am allgemeinen sozialen Leben. Unter diesen Bedingungen hält es das Gericht für ausgeschlossen, dass eine in physischer wie psychischer Hinsicht derart instabile Person wie die Klägerin im Westen der Türkei Fuß fassen und ein menschenwürdiges Leben führen könnte, zumal mit zwei Kleinstkindern und ohne jeden Beistand durch Familienangehörige. [...]