VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 20.07.2010 - 29 K 154.10 V - asyl.net: M17532
https://www.asyl.net/rsdb/M17532
Leitsatz:

Dem 16-jährigen türkischen Kläger ist ein Visum zum Zwecke des Familiennachzugs zu seinem allein sorgeberechtigten Vater zu erteilen. Zu Unrecht meint die Beklagte, die Sorgerechtsentscheidung des Familiengerichts in Izmir sei unbeachtlich, da sie nicht dem Kindeswohl entspricht. Ausländerrechtliche und ökonomische Belange sind nicht grundsätzlich mit dem Kindeswohl inkongruent. Es ist eine autonome Entscheidung der Eltern, wer die Erziehung des Kindes wo wahrnehmen soll.

Schlagwörter: Visum, Visumsverfahren, Familienzusammenführung, Kindernachzug, alleiniges Sorgerecht, Türkei, türkisches Zivilrecht, ordre-public-Vorbehalt, Kindeswohl
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3, FGG § 16a Nr. 4
Auszüge:

[...]

Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet, da der angegriffene Bescheid rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 VwGO). Er hat einen Anspruch auf Familiennachzug nach § 32 Abs. 3 AufenthG, da er das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat sowie sein Vater über eine Niederlassungserlaubnis verfügt und Inhaber des alleinigen Personensorgerechts ist. Zu Unrecht meint die Beklagte, die Sorgerechtsentscheidung des 10. Familiengerichts in ?zmir vom 28. März 2008 sei unbeachtlich. [...]

Unzutreffend, weil den danach anzulegenden Prüfungsmaßstab überspannend, ist jedoch die Auffassung, dies führe im vorliegenden Fall dazu, dass der Sorgerechtsentscheidung vom 28. März 2008 die Anerkennung versagt werden könne. Dies gilt zunächst für die Frage, ob die fragliche Entscheidung mit dem türkischen Zivilrecht in Einklang steht, denn maßgeblich ist allein das an deutschem Recht zu messende Ergebnis. Dass die Übertragung des Sorgerechts auf einen Elternteil allein grundsätzlich oder auch im vorliegenden Fall nicht hinnehmbar wäre, ist nicht ersichtlich. Dazu hat das Verwaltungsgericht Berlin im Urteil vom 10. Februar 2005 (VG 31 V 12.04, juris Rdnr. 20) ausgeführt:

"Indes ist die Anerkennung des Urteils eines ausländischen Gerichts nur ausgeschlossen, wenn diese zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, was insbesondere der Fall ist, wenn die Anerkennung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Das lässt sich weder allgemein noch im vorliegenden Fall für die Übertragung des Sorgerechts von der Mutter auf den Vater sagen, wobei das Gericht davon ausgeht, dass der ordre-public-Vorbehalt hohe Anforderungen stellt (vgl. Kegel/Schurig, IPR, 8. Aufl. 2000, § 16 III 2 c und 3, Seite 465 f. und Kegel/Soergel, BGB, 12. Aufl. 1996, Art. 6 EGBGB, Rn. 23). Da die Klägerin nach dem Erlass des Urteils den Nachzug zu ihrem Vater beantragte, sich im Rahmen des Visumverfahrens auf eine weitere Befragung einließ und auf Befragen mittels ihres Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung ihr Interesse an dem Verfahren hat – glaubhaft – bekunden lassen, lässt sich ihre etwaige Nichtbeteiligung im Sorgerechtsverfahren nicht zum Anlass nehmen, dem Urteil die Anerkennung zu versagen. Das Ergebnis der Sorgerechtsentscheidung ist auch von der Klägerin gewollt, lässt sich mithin nicht unter Berufung auf ihr Wohl und ihre Grundrechte durch den Ausschluss der Anerkennung dieser Entscheidung vermeiden." [...]

Ebenfalls nicht mit dem gebotenen Prüfungsmaßstab vereinbar ist die Wertung, die Sorgerechtsentscheidung widerspreche in einer zugleich dem ordre public widersprechenden Weise dem Kindeswohl. Dabei kann unterstellt werden, dass die Entscheidung allein oder jedenfalls entscheidend ausländerrechtlich motiviert bzw. von ökonomischen Gesichtspunkten getragen ist, nämlich dem Zweck dient, dem Kläger den Zuzug nach Deutschland zu ermöglichen, weil die Ausbildungssituation und die daran anknüpfenden Berufsaussichten hier besser erscheinen. Ob dies tatsächlich zutrifft und ob der Kläger trotz relativ fortgerückten Alters davon wird profitieren können, ist allein eine Frage der inhaltlichen Richtigkeit der Sorgerechtsentscheidung; eine Fehlgewichtung begründet allein keinen Verstoß gegen den ordre public. Es mag zwar sein, dass aus deutscher Sicht wegen einer mit zunehmendem Alter abnehmenden Integrationsfähigkeit es dem Kindeswohl umso mehr zu entsprechen scheint, das Kind in seiner gewohnten Umgebung zu belassen, je stärker es dort integriert ist. Es ist aber nicht einsehbar, weshalb die genannten ausländerrechtlichen und ökonomischen Belange grundsätzlich mit Kindeswohlbelangen inkongruent sein sollen. Es ist zunächst eine autonome Entscheidung der Eltern, wer die Erziehung des Kindes wo wahrnehmen soll. Eine Sorgerechtsentscheidung, die dem Rechnung trägt, ist zunächst hinzunehmen, solange nicht erkennbar ist, dass das Kind dadurch in eine nicht hinnehmbare Situation gebracht wird. Die in § 20 Abs. 3 AuslG noch vorgesehene Möglichkeit, dem im Wege der Ermessenentscheidung einwanderungspolitische Gesichtspunkte entgegenhalten zu können, hat der Gesetzgeber abgeschafft. Es erscheint nicht geboten, ersatzweise im Wege der Ferndiagnose zu mutmaßen, ob der zur Entscheidung berufene türkische Richter bei seiner zugegebenermaßen wenig aufschlussreich begründeten Entscheidung Kindeswohlbelange nicht nur anders gewichtet haben könnte, als dies ein nicht – jedenfalls nicht primär – zur Entscheidung berufener deutscher Richter möglicher Weise getan hätte, sondern sie völlig außer Acht gelassen hat. [...]