VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 01.07.2010 - 7 K 1142/09.GI - asyl.net: M17535
https://www.asyl.net/rsdb/M17535
Leitsatz:

Zum Erstattungsanspruch aufgrund einer Verpflichtungserklärung: In der Regel hat die öffentliche Hand ihr zustehende Geldleistungsansprüche durchzusetzen. Rückforderungs- und Erstattungsansprüche sind aber typischerweise von Ermessensentscheidungen abhängig; die (unbeabsichtigte) Regelungslücke im Gesetz ist daher mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu schließen. Im vorliegenden Fall war der Kläger arbeitslos geworden, weshalb die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, im Wege des Ermessens Erwägungen darüber anzustellen, in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird und welche Zahlungserleichterungen dem Kläger etwa eingeräumt werden. Der Kostenerstattungsbescheid ist daher rechtswidrig und wird aufgehoben.

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Kostenerstattung, Ermessen, Verhältnismäßigkeit, Regelungslücke, Rentenversicherungsbeiträge
Normen: AuslG § 84 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

Ein zur Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung führender Ausnahmefall im Sinne der Rechtsprechung des BVerwG (Urteil vom 24.11.1998 - 1 C 33/97 -) kann auch bei einer rein aus privatnützigen Gründen abgegebenen Verpflichtungserklärung gegeben sein.

(Amtlicher Leitsatz)

[...]

Der Kläger wendet sich gegen seine Heranziehung zur Erstattung von Leistungen aufgrund einer von ihm im September 2002 nach § 84 AuslG abgegebenen Verpflichtungserklärung zu Gunsten seiner Schwiegertochter. [...]

Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 10.10.2007 in der Gestalt deren Widerspruchsbescheids vom 05.12.2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 VwGO). Zwar hat der Kläger eine hinreichend bestimmte, die sonstigen Erfordernisse wahrende und ihn auch rechtlich beanstandungsfrei unbefristet bindende Verpflichtungserklärung abgegeben. Dennoch kann der angefochtene Bescheid keinen Bestand haben, weil die Beklagte gebotene Ermessenserwägungen nicht angestellt hat.

Rechtsgrundlage des streitgegenständlichen Erstattungsbescheids ist § 84 Abs. 1 S. 1 AuslG. Danach hat derjenige, der sich der Ausländerbehörde oder der Auslandsvertretung gegenüber verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt eines Ausländers zu tragen, sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum und der Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, auch soweit die Aufwendungen auf einem gesetzlichen Anspruch des Ausländers beruhen. Da der Kläger eine entsprechende Verpflichtungserklärung nach § 84 AuslG im September/Oktober 2002 abgegeben hat, ist für die rechtliche Beurteilung und den Umfang der Verpflichtung des Klägers § 84 AuslG maßgebend, nicht die am 01.01.2005 in Kraft getretene Folgebestimmung § 68 AufenthG, die allerdings weitgehend wörtlich § 84 AuslG entspricht. [...]

Entgegen der Auffassung des Klägers war die Verpflichtungserklärung auch hinreichend bestimmt. Die Zeitangabe "Einreise bis Ausreise" ist ausreichend. Der Kläger muss sich an dem festhalten lassen, was er unterschrieben hat. Eine derart weitgehende Verpflichtungserklärung ist auch nicht unverhältnismäßig. Es ging vorliegend allein um einen privatnützigen Zuzug. Soweit der Kläger sinngemäß vorträgt, sich über die gesamte Tragweite der übernommenen Verpflichtung nicht im Klaren gewesen zu sein, handelt es sich nur um einen unbeachtlichen Motivirrtum (vgl. VG München, 16.01.2002 – M 23 K 01.4677 – juris).

Auch sonstige materiell-rechtliche Bedenken gegen die Wirksamkeit der Verpflichtungserklärung und das Bestehen einer Erstattungspflicht gemäß § 84 Abs. 1 AuslG bestehen nicht. Unschädlich ist, dass in dem "Fragebogen zur Erstellung einer Erklärung ..." , den der Kläger am 20.09.2002 unterzeichnete, nur von einem "Besuchs- bzw. Touristenaufenthalt" die Rede ist (vgl. Ziff. 2 d. gerichtl. Schreibens v. 01.06.2010, Bl. 60 d.A.). Denn dem Kläger und den seine Verpflichtungserklärung entgegennehmenden Mitarbeitern der Ausländerbehörde des Landrats des Lahn-Dill-Kreises war bekannt, dass die Einreise der Schwiegertochter I. zu deren Daueraufenthalt führen werde. Die Verwendung des angesichts der wirklichen Umstände sozusagen "falschen Formulars" hat der Landrat des Lahn-Dill-Kreises im bereits oben erwähnten Schreiben vom 15.06.2010 zur Überzeugung der Kammer hinreichend erklärt. Im Übrigen ist nach der auch im öffentlichen Recht entsprechend anzuwenden Regel des § 133 BGB bei der Auslegung der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Danach ist das gesamte Verhalten des Erklärenden einschließlich aller dem Erklärungsempfänger erkennbar gewordenen Begleit- und Nebenumstände zu berücksichtigen (vgl. Hess.VGH, 29.08.1997 – 10 UE 2030/95 -, ESVGH 48, 25 = InfAuslR 1998, 166). Vorliegend war allen Beteiligten klar, dass die Schwiegertochter des Klägers einen Daueraufenthalt anstrebte.

Der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides enthält jedoch keine Ermessenserwägungen zur Heranziehung des Klägers und steht insoweit mit § 84 Abs. 1 AuslG nicht in Einklang. Nach der Rspr. des BVerwG (a.a.O., Rz. 58 ff. in juris) ist die Frage, ob die anspruchsberechtigte öffentliche Stelle den Verpflichteten heranzuziehen hat oder unter welchen Voraussetzungen sie davon absehen kann, in § 84 AuslG nicht geregelt; insbesondere lasse sich aus der Bestimmung der gesetzlichen Folgen einer Verpflichtungserklärung in § 84 Abs. 1 AuslG (Begründung eines Erstattungsanspruchs) nicht ableiten, dass die zuständige Stelle ausnahmslos verpflichtet wäre, einen danach gegebenen Erstattungsanspruch geltend zu machen. Diese, so dass BVerwG weiter, (unbeabsichtigte) Regelungslücke sei unter Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze zu schließen. In der Regel habe die öffentliche Hand ihr zustehende Geldleistungsansprüche durchzusetzen. Rückforderungs- und Erstattungsansprüche seien aber typischerweise von Ermessensentscheidungen abhängig, bei denen auf die Umstände des Einzelfalls einzugehen sei. Diese Grundsätze seien auf den Erstattungsanspruch nach § 84 Abs. 1 AuslG zu übertragen, weil der ihnen gemeinsame Rechtsgedanke auch hier Geltung beanspruche. "Demgemäß ist der Verpflichtete im Regelfall zur Erstattung heranzuziehen, ohne dass es dahingehender Ermessenserwägungen bedürfte. Ein Regelfall wird vorliegen, wenn die Voraussetzungen der Aufenthaltsgenehmigung einschließlich der finanziellen Belastbarkeit des Verpflichteten im Verwaltungsverfahren voll und individuell geprüft worden sind und nichts dafür spricht, dass die Heranziehung zu einer unzumutbaren Belastung des Verpflichteten führen könnte. Hingegen hat die erstattungsberechtigte Stelle bei atypischen Gegebenheiten im Wege des Ermessens zu entscheiden, in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird und welche Zahlungserleichterungen dem Verpflichteten etwa eingeräumt werden. Wann in diesem Sinne ein Ausnahmefall vorliegt, ist anhand einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden und unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung“ (a.a.O., Rz. 60 juris). Die Kammer ist der Auffassung, dass diese Grundsätze auch bei einer rein privatnützigen Verpflichtungserklärung, wie sie vorliegend gegeben ist, greifen und nicht angenommen werden kann, dass bei einer Einladung aus persönlichen Gründen immer ein Regelfall vorliege, so dass es irgendwelcher Ermessenserwägungen nicht bedürfte (so aber Nds. OVG 20.07.2005 – 7 LB 182/02 -, AuAS 2006, 17 = InfAuslR 2005, 485). Denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat auch bei rein privatnützigen Verpflichtungserklärungen Bedeutung.

Vorliegend ist zwar die Belastbarkeit des Klägers im Verwaltungsverfahren vor Abgabe seiner Verpflichtungserklärung im September/Oktober 2002 voll und individuell geprüft worden, jedoch ist vorliegend aufgrund atypischer Gegebenheiten des Einzelfalles ein Ausnahmefall anzunehmen, so dass die Beklagte spätestens im Widerspruchsbescheid hätte entscheiden müssen, ob und in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird und welche Zahlungserleichterungen dem Verpflichteten etwa eingeräumt werden. Zum Zeitpunkt der Abgabe der Verpflichtungserklärung verfügte der Kläger über ein regelmäßiges Einkommen. Seit Mai 2006 ist er arbeitslos. Da der Kläger dies am 09.10.2007 der Beklagten auf das Anhörungsschreiben vom 01.10.2007 hin mitgeteilt hat, wäre die Beklagte nach den dargestellten Rechtsgrundsätzen des BVerwG verpflichtet gewesen, im Zusammenhang mit dem Erlass des Bescheides vom 10.10.2007 im Wege des Ermessens Erwägungen darüber anzustellen, in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird und welche Zahlungserleichterungen dem Kläger etwa eingeräumt werden. Die danach zwingend gebotene Ermessensbetätigung ist ausgeblieben, so dass der Heranziehungsbescheid rechtswidrig ist. Demgegenüber kann sich die Beklagte nicht darauf berufen, sie habe keine Ermittlungsmöglichkeiten gehabt. Zum Einen hätte sie auf die Angaben des Klägers am 09.10.2007 hin Erkundigungen bei der dem Kläger das Arbeitslosengeld I bezahlenden Stelle einholen können, zum Anderen wäre die für den Kläger zuständige Ausländerbehörde des Landrats des Lahn-Dill-Kreises im Rahmen des § 84 Abs. 4 AuslG zur Hilfe gegenüber der Beklagten verpflichtet gewesen. Dass die Beklagte diese Ermittlungsmöglichkeiten nicht genutzt hat, geht nunmehr zu ihren Lasten.

Bei dieser Gelegenheit bemerkt die Kammer, dass unabhängig von den vorgenannten Gesichtspunkten die dem Kläger mit dem angefochtenen Bescheid in Rechnung gestellten Rentenversicherungsbeiträge nach der in § 84 Abs. 1 S. 2 AuslG getroffenen Regelung, wonach Aufwendungen, die auf einer Beitragsleistung beruhen, nicht zu erstatten sind, von der Verpflichtungserklärung nicht erfasst werden. [...]