1. Nach der Rechtsprechung des EuGH und des BVerwG führt die erkennbar gewachsene Bedeutung des Rechts auf Achtung des Privatlebens im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung zur Erweiterung der Ausnahmen von der Regelausweisung, um eine dem Einzelfall gerechte Ermessensprüfung zu ermöglichen (Art. 6, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK). Der schematische Blick der Verwaltung auf die Ist- und Regelausweisung erweise sich als wenig hilfreich, um das gesamte Spektrum betroffener Belange in den Blick nehmen zu können.
2. Eine erstmalige Ermessensausübung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist unzulässig (§ 114 S. 2 VwGO).
[...]
Im Übrigen ist die zulässige Berufung des Beklagten unbegründet. Die angefochtene Ausweisungsverfügung ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung ist nach der Änderung der ursprünglich auf die letzte Behördenentscheidung abstellenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in Folge des Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 (BGBl. I 2007, 1970) nunmehr bei allen Ausländern einheitlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich (vgl. BVerwG, Urteile vom 3. August 2004 - 1 C 30.04 -, InfAuslR 2005, 18 (freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger) und - 1 C 29.02 -, InfAuslR 2005, 26 (assoziationsberechtigte türkische Staatangehörige), sowie Urteil vom 15. November 2007 - 1 C 45.06 -, InfAuslR 2008, 156 (alle Ausländer)).
Dies hat zur Folge, dass sich die Rechtmäßigkeit der Ausweisung für den Kläger nach §§ 53, 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, Satz 2 und 4 AufenthG bestimmt (1.). Danach erweist sich die Ausweisungsverfügung als rechtswidrig, weil es an einem Regelfall im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG fehlt und die Ausweisung nur unter Berücksichtigung der für eine Ermessensausweisung geltenden Grundsätze (vgl. § 55 AufenthG) erfolgen kann (2.). Dem Beklagten ist es aber aus prozessualen und materiell-rechtlichen Gründen verwehrt, im bereits anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren erstmals Ermessen auszuüben (3.).
1. Ermächtigungsgrundlage für die Ausweisung des Klägers ist § 53 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, Satz 2 und 4 AufenthG. Diese Regelungen bieten hinreichend Raum, den im Einzelfall zu berücksichtigenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben Rechnung zu tragen. Der Senat hält es deshalb nicht für erforderlich, in Fällen drittstaatsangehöriger Ausländer, deren Ausweisung auf eine Ermessensausweisung herabzustufen ist, stets auf § 55 AufenthG zurückzugreifen, wie es das Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwG, Urteile vom 3. August 2004 - 1 C 29.02 -, InfAuslR 2005, 26, und - 1 C 30.02 -, InfAuslR 2005,18) bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen für geboten hält, um bereits gemeinschaftsrechtlich den Anschein zu vermeiden, dass strafrechtliche Verurteilungen stets und unabhängig von der Art der Straftat oder der Strafhöhe keine andere Rechtsfolge zulassen als die Ausweisung.
Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des § 53 Nr. 1 AufenthG. Er wurde wegen Vergewaltigung durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts ... zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Er genießt aber besonderen Ausweisungsschutz gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG, weil er rechtskräftig als Flüchtling im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG anerkannt wurde. Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG wird er deshalb nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen. Zudem wird, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 53 AufenthG vorliegen, der Ausländer nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nicht mehr zwingend, sondern nur in der Regel ausgewiesen.
2. An einem die Ausweisung rechtfertigenden Regelfall im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG fehlt es.
Regelfälle sind solche, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind dagegen durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt. Bei der uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegenden Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, sind alle Umstände einer eventuellen strafrichterlichen Verurteilung sowie die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen zu berücksichtigen, die in § 55 Abs. 3 AufenthG nicht abschießend genannt sind.
Das Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urteil vom 23. Oktober 2007 - 1 C 10.07 -, InfAuslR 2008, 116) hat allerdings die sowohl in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteile vom 22. März 2007 - 1638/03 - Maslov -, InfAuslR 2007, 221, und vom 28. Juni 2007 - 31753/02 - Kaya -, InfAuslR 2007, 325) als auch des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschlüsse vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07-, NVwZ 2007, 946; und vom 10. August 2007 - 2 BvR 535/06 -) erkennbar gewachsene Bedeutung des Rechts auf Achtung des Privatlebens im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung zum Anlass genommen, die Voraussetzung für die Annahme eines Ausnahmefalls noch weiter zu fassen: Danach liegt ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - bereits dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten. Zur Begründung hat es ausgeführt, der bisherige Maßstab, der ergebnisbezogen auf die Unvereinbarkeit der Ausweisung mit höherrangigem Recht abstelle, reiche nach den Erfahrungen des Senats nicht aus, um den von Art. 6, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belangen in der Praxis zu einer ausreichenden Berücksichtigung zu verhelfen. Vielmehr bestehe die Gefahr, dass schutzwürdige, von den Tatbeständen des § 48 Abs. 1 AuslG bzw. § 56 Abs. 1 AufenthG nicht (voll) erfasste Belange des Betroffenen im Verwaltungsvollzug schematisierend ausgeblendet würden. Insbesondere bei der im Laufe der Zeit angewachsenen Gruppe im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer bedürfe es bei der Entscheidung über eine Ausweisung einer individuellen Würdigung, inwieweit der Ausländer im Bundesgebiet verwurzelt sei und dies angesichts der konkreten Ausweisungsgründe bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles einer Ausweisung entgegenstehe. Aber auch in anderen Fällen erweise sich der schematische Blick der Verwaltung auf die Ist- und Regelausweisung als wenig hilfreich, um das gesamte Spektrum betroffener Belange in den Blick nehmen zu können. Die Ermessensentscheidung als der dritte vom Gesetzgeber vorgesehene Entscheidungsmodus biete demgegenüber in der Verwaltungspraxis höhere Gewähr für eine Berücksichtigung aller Aspekte des jeweiligen Einzelfalles und die angemessene Gewichtung anlässlich der Entscheidung über den Erlass einer Ausweisung.
Wann ein Fall vorliegt, in dem höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles "gebieten", hat das Bundesverwaltungsgericht in qualitativer Hinsicht nicht konkretisiert. Zweifelhaft ist, ob insoweit bereits genügt, dass die Ausweisung etwa den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens oder Achtung des Privatlebens im Sinne des Art. 6 GG oder 8 EMRK tangiert oder ob weiter erforderlich ist, dass der Ausländer über Belange von solchem Gewicht verfügen muss, die einen besonders hohen Grad an Schutzwürdigkeit rechtfertigen (so Hess. VGH, Beschluss vom 14. Januar 2009 - 9 A 1622/08. Z -, ZAR 2009, 236, VG Karlsruhe, Urteil vom 30. September 2009 - 5 K 2790/07 -, juris), oder ob nicht sogar eine Verletzung höherrangigen Rechts als möglich erscheinen muss. Dies lässt der Senat dahinstehen. Eine Verletzung höherrangigen Rechts erscheint hier jedenfalls mit Blick auf eine Vielzahl von Umständen, die eine Einzelfallprüfung gebietet, für möglich: Der Kläger kann als anerkannter Flüchtling (Art. 9 ff. Qualifikationsrichtlinie) auf Grund seiner besonderen Schutzwürdigkeit (vgl. Art. 14, 21 Qualifikationsrichtlinie) nur ausnahmsweise und unter besonderen Umständen ausgewiesen werden. Ferner steht die Ausweisung einer Titelerteilung grundsätzlich entgegen (vgl. § 11 Satz 2 AufenthG sowie § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), während Art. 21 Abs. 3, 24 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie den Anspruch des Klägers als anerkannten Flüchtling auf Titelerteilung nur in besonderen und hier jedenfalls nicht offensichtlich vorliegenden Ausnahmefällen ausschließen. Zudem sind aufgrund der gegebenen Umstände Art. 8 EMRK und Art. 6 GG in Rechnung zu stellen. [...]
Das Nachschieben von Gründen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist zwar grundsätzlich zulässig (a). Dies gilt aber nicht für den - hier gegebenen - Fall, dass Ermessenserwägungen erstmals im Gerichtsverfahren angestellt werden. Dem stehen prozessuale (b) und materiell-rechtliche (c) Hindernisse entgegen.
a) Ein Nachschieben von Gründen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist grundsätzlich möglich. Dies folgt bereits aus dem Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO), der das Gericht verpflichtet, angefochtene Hoheitsakte von Amts wegen unter allen denkbaren rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten zu überprüfen. In die gleiche Richtung weist der Grundsatz der Prozessökonomie (vgl. Dolderer, DÖV 1999, 104).
Entsprechendes bestätigt das einschlägige Verwaltungsverfahrensrecht. So erlaubt § 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 VwVfG das Nachholen einer fehlenden Begründung bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens.
b) Nach § 114 Satz 2 VwGO, der die prozessrechtliche Seite des Nachschiebens von Gründen bei Ermessensentscheidungen regelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Mai 1998 - 1 C 17.97 , NVwZ 1999, 425; OVG NRW, Urteil vom 2. Februar 2001 - 12 A 2882/99 -, juris), ist die erstmalige Ermessensausübung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aber unzulässig. [...]