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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 18.08.2010 - V ZB 119/10 - asyl.net: M17569
https://www.asyl.net/rsdb/M17569
Leitsatz:

Das Beschwerdegericht durfte von der Anhörung nicht absehen, da der Haftantrag nicht ausreichend begründet war. Ohne die Beiziehung der Ausländerakte konnte das Beschwerdegericht auch keine Feststellungen zum Beschleunigungsgebot treffen. Zweifelhaft ist, ob der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Prüfung des Haftgrundes hinreichend Beachtung gefunden hat, da hinreichende Feststellungen dazu fehlen, warum es erforderlich war, die Haft bis zum 26.4.2010 anzuordnen.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Haftantrag, Begründungserfordernis, rechtliches Gehör, Ausländerakte, Beschleunigungsgebot, Haftgründe, unerlaubte Einreise, Sachaufklärungspflicht, Drei-Monats-Frist, Verhältnismäßigkeit
Normen: FamFG § 417 Abs. 2 S. 1, FamFG § 68 Abs. 3, FamFG § 420 Abs. 1 S. 1, GG Art. 104 Abs. 1 S. 1, GG Art. 104 Abs. 3 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 14 Abs. 1, FamFG § 26, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4
Auszüge:

[...]

a) Mit Erfolg rügt der Betroffene die fehlende Beiziehung der Ausländerakten durch das Beschwerdegericht. Denn ohne sie konnte es keine Feststellungen zu der Einhaltung des Beschleunigungsgebots treffen (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 204/09, Rn. 7 ff., juris).

aa) Das aus Art. 2 Abs. 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen (vgl. BVerfGE 46, 194, 195) ist auch schon während des Laufs der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu beachten; es ist verletzt, wenn die Ausländerbehörde nicht alle notwendigen Anstrengungen unternommen hat, um Ersatzpapiere zu beschaffen, damit der Vollzug der Abschiebungshaft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann (Senat, Beschluss vom 11. Juli 1996 - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235, 239). Das Beschwerdegericht darf die Sicherungshaft deshalb nur aufrechterhalten, wenn die Behörde die Abschiebung des Betroffenen ernstlich betreibt, und zwar, gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, mit der größtmöglichen Beschleunigung (Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, Rn. 16, juris).

bb) Der Betroffene hat dargelegt, welche entscheidungserheblichen Informationen den Ausländerakten entnommen werden konnten (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, FGPrax 2010, 154, 156; Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 203/09, Rn. 7, juris). Da zwischen der Haftanordnung durch das Amtsgericht und dem Erlass der Beschwerdeentscheidung ein Zeitraum von knapp zwei Monaten liegt, hätte das Beschwerdegericht bereits angesichts dessen sein besonderes Augenmerk auf die Beachtung des Beschleunigungsgebots richten müssen.

b) Nicht frei von Rechtsfehlern ist ferner die Annahme des Haftgrundes der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG.

Ein Betroffener ist in Sicherungshaft zu nehmen, wenn er aufgrund unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet vollziehbar ausreisepflichtig ist (§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) und die Ausländerbehörde beabsichtigt, die Ausreisepflicht (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) zwangsweise durchzusetzen. Ergibt sich die vollziehbare Ausreisepflicht - wie hier - weder aus einer bestandskräftigen Abschiebungs- bzw. Zurückschiebungsverfügung noch aus einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, muss der Haftrichter die erforderliche Prüfung selbst vornehmen (Senat, Beschluss vom 16. Dezember 2009 - V ZB 148/09, FGPRax 2010, 50; Beschluss vom 8. April 2010 - V ZB 51/10, Rn. 13, juris). Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Amtsgericht zwar davon aus, dass die Einreise des Betroffenen nach § 14 Abs. 1 AufenthG unerlaubt war, wenn er ohne gültigen Pass oder Passersatz und ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel (regelmäßig ein Visum) eingereist ist. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat es aber nicht so aufgeklärt, wie das nach § 26 FamFG erforderlich war. Es hat sich allein auf die Angaben des Betroffenen gestützt, er halte sich seit Jahren illegal im Bundesgebiet auf und habe weder Papiere oder einen Pass. Dass der Betroffene bereits ohne die hierzu erforderlichen Papiere eingereist war und die vollziehbare Ausreisepflicht noch auf der unerlaubten Einreise beruht (vgl. OLG Oldenburg InfAusIR 2002, 307; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 69. Aktual. Juni 2010, § 62 AufenthG Rn. 39), kann diesen Angaben nicht ohne weiteres entnommen werden. [...]

d) Ob der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Prüfung des Haftgrundes hinreichend Beachtung gefunden hat (vgl. BVerfG InfAuslR 1994, 342, 344; BayObLGZ 1974, 249, 253), ist ebenfalls zweifelhaft. Es fehlen hinreichende Feststellungen dazu, warum es erforderlich war, die Haft bis zum 26. April 2010 anzuordnen. [...]