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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 02.09.2010 - 1 B 18.10 - asyl.net: M17577
https://www.asyl.net/rsdb/M17577
Leitsatz:

Die streitige Rechtsfrage, ob auch ein in Deutschland lebendes deutsches Kind einen eigenen Anspruch (Klagebefugnis, subjektives Recht) auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für seinen sorgeberechtigten Vater hat, wird offengelassen, da das Rechtsschutzbedürfnis mit der Titulierung des Anspruchs durch den Vater im eigenen Namen entfallen ist.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Anspruch, Familiennachzug, familiäre Lebensgemeinschaft, Klagebefugnis, Sorgerecht, Rechtsschutzinteresse, Verfahrensfehler, subjektives Recht
Normen: AufenthG § 27 Abs. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, EMRK Art. 8, GG Art. 6, VwGO § 42 Abs. 2, VwGO § 108 Abs. 1 S. 1, VwGO § 132 Abs. 2
Auszüge:

1. Es bleibt offen, ob ein in Deutschland ansässiges deutsches Kind einen eigenen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an seinen sorgeberechtigten ausländischen Vater hat.

2. Selbst wenn das Kind einen solchen Anspruch hätte, würde dieser mit Erfüllung des gleichgerichteten Anspruchs seines Vaters erlöschen. Mit der Titulierung des Anspruchs des Vaters entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für die gerichtliche Geltendmachung des - hier unterstellten - Anspruchs des Kindes.

3. Für eine Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an einen Familienangehörigen für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum fehlt ebenfalls das Rechtsschutzbedürfnis. Nach Art. 6 GG schützenswert ist allenfalls das Interesse an der Aufrechterhaltung der Lebensgemeinschaft, nicht aber das Interesse an der Verfestigung des Aufenthalts eines Familienangehörigen durch rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

(Amtliche Leitsätze)

[...]

2. Der Kläger zu 2 wirft mit seiner Beschwerde im Hinblick auf das ihm gegenüber ergangene Prozessurteil die Grundsatzfrage auf, "ob (deutsche) Familienangehörige der Kernfamilie, insbes. das deutsche minderjährige Kind eines ausreisepflichtigen Ausländers, selbst im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt gegen die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sind und worauf sich ggf. ihr Klageziel richten darf, insbes. ob sich deren Klagebefugnis auf eine Verpflichtungsklage bezieht oder ihnen nur die Möglichkeit einer Anfechtungsklage verbleibt."

Die damit angesprochene, über die Klagebefugnis hinausreichende Frage, ob ein in Deutschland ansässiger Ehepartner bzw. Familienangehöriger aus dem persönlichen Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG einen eigenen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen an seinen Ehepartner bzw. nahen Familienangehörigen besitzt, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet (bejahend: OVG Berlin, Urteil vom 16. Dezember 2003 - 8 B 26.02 - juris Rn. 20 ff.; verneinend: VGH Mannheim, Urteil vom 10. Dezember 1986 - 11 S 644/86 - NVwZ 1987, 920). Dennoch ist die Revision nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, da die aufgeworfene Frage - soweit sie klärungsbedürftig erscheint - in dem erstrebten Revisionsverfahren nicht klärungsfähig ist.

a) Im Hinblick auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Zukunft ist die Grundsatzfrage in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht klärungsfähig. Denn mit Zurückweisung der Beschwerde des Klägers zu 1 erwächst das stattgebende Berufungsurteil in Rechtskraft (§ 133 Abs. 5 Satz 3 VwGO) und ist dessen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG tituliert. Damit hat sich das auf das gleiche Ziel gerichtete Klagebegehren des Klägers zu 2 in dem vom Berufungsgericht zugesprochenen Umfang (Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ohne Rückwirkung) erledigt. Insoweit ist das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage des Klägers zu 2 - unabhängig von der positiven oder negativen Beantwortung der Grundsatzfrage - entfallen. Denn selbst wenn man dem Kläger zu 2 als Kind deutscher Staatsangehörigkeit aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 27 Abs. 1 AufenthG und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG ein eigenes subjektives Recht auf Erteilung eines Aufenthaltstitels an seinen Vater zubilligen wollte, stünden die Ansprüche von Vater und Sohn zueinander in einem Abhängigkeitsverhältnis gleichsam den Forderungen von Gesamtgläubigern: Wird der Anspruch eines Klägers erfüllt, erlischt auch der - hier unterstellte - Anspruch des anderen Klägers. Konsequenterweise entfällt durch die Titulierung des Anspruchs eines Klägers das Rechtsschutzbedürfnis für die gerichtliche Geltendmachung eines gleichgerichteten Anspruchs durch den anderen Kläger.

b) Für das Begehren auf rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis an seinen Vater fehlt dem Kläger zu 2 ebenfalls das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, auch wenn der Verwaltungsgerichtshof insoweit der Berufung des Klägers zu 1 nicht stattgegeben hat. Nach der Rechtsprechung des Senats kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung nur beansprucht werden, wenn der Ausländer daran ein schutzwürdiges Interesse hat. Dies gilt unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren Zeitpunkt bereits erteilt worden ist oder nicht. In diesem Sinne hat der Senat ein schutzwürdiges Interesse angenommen, wenn es für seine weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein kann, von welchem Zeitpunkt an der Ausländer den begehrten Aufenthaltstitel besitzt (vgl. Urteil vom 9. Juni 2009 - BVerwG 1 C 7.08 - Buchholz 402.242 § 9a AufenthG Nr. 1 = NVwZ 2009, 1431 m.w.N.).

Ein dahingehendes schutzwürdiges Interesse des Klägers zu 2 ist aber weder dargelegt noch ersichtlich. Selbst wenn man - zu seinen Gunsten - das Bestehen eines aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG abgeleiteten eigenen subjektiven Rechts auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an seinen Vater unterstellt, zielt dieses prospektiv auf die Ermöglichung des Aufenthalts in Deutschland, um hier eine familiäre Lebensgemeinschaft herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Der Kläger zu 1 hat sich aber in der Vergangenheit im Bundesgebiet aufgehalten. Auf dessen Interesse an der Verfestigung und Verselbständigung seines Aufenthaltsrechts, das hinter der rückwirkenden Geltendmachung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht, kann sich der Kläger zu 2 nicht berufen. Denn seinem Interesse an der Aufrechterhaltung der Lebensgemeinschaft mit dem Vater im Bundesgebiet ist durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und Berücksichtigung der schutzwürdigen Bindungen gemäß Art. 6 GG und Art. 8 EMRK bei eventuellen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Genüge getan. Mit Blick auf die begehrte rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis an einen Familienangehörigen fehlt der aufgeworfenen Frage daher die Klärungsbedürftigkeit in einem Revisionsverfahren. [...]