LSG Niedersachsen-Bremen

Merkliste
Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.08.2010 - 15 AS 145/10 B ER - asyl.net: M17598
https://www.asyl.net/rsdb/M17598
Leitsatz:

Vorläufiger Anspruch im Eilverfahren auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII für bulgarische Staatsangehörige wegen Aufenthaltsrechts als niedergelassener selbständig Erwerbstätiger. Ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ist hingegen ausgeschlossen, da keine Beschäftigungserlaubnis erteilt wurde (keine Erwerbsfähigkeit) und mit der wohl überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur (entgegen der Durchführungshinweise der BA) die bloß abstrakt generelle Möglichkeit zur Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nicht genügt; erforderlich ist eine konkrete Aussicht auf die Erteilung einer solchen Erlaubnis.

Schlagwörter: SGB II, SGB XII, Unionsbürger, Bulgarien, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, erwerbsfähig, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitsuche, selbstständige Erwerbstätigkeit, Arbeitserlaubnis, freizügigkeitsberechtigt
Normen: SGG § 75 Abs. 5, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, SGB II § 8 Abs. 1, SGB III § 284 Abs. 1, SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, SGB II 8 Abs. 2, SGB XII § 23 Abs. 1 S. 1, SGB XII § 21 S. 1, SGB XII § 19 Abs. 1 S. 1, SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 2, FreizügG/EU § 3 Abs. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Die gemäß §§ 172, 173 SGG zulässige Beschwerde ist insoweit begründet, als die Beigeladene in analoger Anwendung des § 75 Abs. 5 SGG zu verpflichten ist, den Antragstellern vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu gewähren. [...]

Unabhängig von der im Vordergrund des Vorbringens der Antragsteller und der Antragsgegnerin stehenden Frage, ob der Antragsteller zu 1) einer selbständigen Tätigkeit nachgeht und sich damit nicht nur zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, kommt nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand ein Anspruch gegen die Antragsgegnerin als Trägerin der Grundsicherung für Arbeitsuchende bereits deswegen nicht in Betracht, weil Grundvoraussetzung für einen Anspruch nach dem SGB II die Erwerbsfähigkeit ist (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II), d.h. die Fähigkeit, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 8 Abs. 1 SGB II).

Erwerbsfähigkeit in diesem Sinne richtet sich nicht allein nach medizinischen, sondern auch nach rechtlichen Kriterien. Denn nach § 8 Abs. 2 SGB II können Ausländer im Sinne von Abs. 1 nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Nach § 284 Abs. 1 SGB III dürfen Staatsangehörige u.a. der Staaten, die nach dem Vertrag vom 25.04.2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union der Europäischen Union beigetreten sind, eine Beschäftigung nur mit Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit ausüben und von Arbeitgebern nur beschäftigt werden, wenn sie eine solche Genehmigung besitzen, soweit nach Maßgabe des EU-Beitrittsvertrages abweichende Regelungen als Übergangsregelungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit Anwendung finden. Art. 23 der Beitrittsakte zum Vertrag vom 25.04.2005 über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens enthält eine entsprechende Übergangsregelung zur vollständigen Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (vgl. hierzu im Einzelnen: Beschluss des Landessozialgerichts - LSG - Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.06.2010 - L 29 AS 952/10 B, Rn. 48ff).

Über die danach erforderliche Genehmigung zur Ausübung einer Beschäftigung verfügen weder der Antragsteller zu 1), die Antragstellerin zu 2) noch ihre Kinder, die 15 bis 22 Jahre alten Antragsteller zu 3) bis 5), die sich nach den vorliegenden Unterlagen in Schulausbildung befinden bzw. (Antragstellerin zu 5) an einem Integrationskurs teilnehmen. Nach § 8 Abs. 2 2. Alt SGB II reicht es für die Annahme einer Erwerbsfähigkeit von Ausländern zwar auch aus, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung (noch) nicht erlaubt ist, sie aber erlaubt werden könnte. Insoweit genügt allerdings nach wohl überwiegender Auffassung in Rechtsprechung in Literatur nicht die bloße abstrakt generelle Möglichkeit zur Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis, sondern es muss eine konkrete Aussicht auf die Erteilung einer solchen Erlaubnis bestehen (so z. B. LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 13.12.2005 - L 25 B 1181/05 AS ER, vom 27.01.2010 - L 29 AS 1820/09 B ER und vom 16.06.2010 - L 29 AS 952/10 B; Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Beschlüsse vom 17.10.2006 - L 3 ER 175/06 AS und vom 12.02.2010 - L 1 SO 84/09 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.09.2006 - L 6 AS 376/06 ER; Blüggel in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 8 Rn. 62ff; Loose in: Hohm, GK-SGB II, § 8, Rn. 105 ff; a. A. SG Dessau, Beschluss vom 21.07.2005 - S 9 AS 386/05 ER; Valgolio in: Hauck/Noffz, SGB II, § 8 Rn. 20f, Brühl in LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, § 8 Rn. 32, ebenso die Durchführungshinweise der BA für die Anwendung des SGB II, Stand: 20.08.2010, Ziffer 2.4.1). Denn Ziel des SGB II ist die Integration in den Arbeitsmarkt. Besteht für einen Ausländer aufgrund der arbeitsgenehmigungsrechtlichen Vorschriften keine konkrete Aussicht auf die Erlaubnis einer Beschäftigungsaufnahme, ist es demgemäß auch nicht gerechtfertigt, ihn dem Sicherungssystem des SGB II zuzuordnen. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber auf Kriterien der Steuerung der Ausländerbeschäftigung bezüglich des zwar fürsorgerechtlichen, aber strikt arbeitsmarktbezogenen Leistungssystems des SGB II hätte verzichten wollen. Auch die Systematik des § 8 Abs. 2 spricht gegen die Auffassung, die abstrakt-generelle Möglichkeit der Erlangung einer Arbeitsgenehmigung sei im Rahmen der 2. Alternative ausreichend. Denn die 1. Alternative des § 8 Abs. 2 SGB II (tatsächliche Erteilung einer Erlaubnis) wäre überflüssig bzw. liefe leer, wenn jeder Ausländer bereits gemäß § 8 Abs. 2 2. Alt. SGB II anspruchsberechtigt wäre, sofern er nur potentiell eine Beschäftigungserlaubnis erhalten kann (so zutreffend Blüggel a.a.O., Rn. 66). Die historische Auslegung ist entgegen den Ausführungen in den Durchführungshinweisen der BA unergiebig (vgl. wiederum Blüggel, a.a.O.). Denn die Formulierung in der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 15/1516, S.52), die "arbeitsgenehmigungsrechtlichen Regelungen" blieben unberührt, kann im vorliegenden Kontext sowohl bedeuten, dass diese Anwendung finden sollen, d.h. die gesetzlichen Voraussetzungen für einen sog. nachrangigen Arbeitsmarktzugang zu prüfen sind (so die Auslegung des LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.), als aber auch umgekehrt, dass dies gerade nicht der Fall sein soll (so die Durchführungshinweise der BA). Die Auffassung der Beigeladenen, die einschränkende Auslegung des § 8 Abs. 2 2. Alt. SGB II sei sozialpolitisch wenig sinnvoll, weil trotz absehbarem Daueraufenthalt eine Integration in den Arbeitsmarkt verhindert werde, übersieht, dass Neu-EU-Bürger nach dem Willen des Gesetzgebers von vornherein nur einen beschränkten Zugang zum bundesdeutschen Arbeitsmarkt haben. Auch kann bei diesem Personenkreis keineswegs generell von einem absehbaren Daueraufenthalt ausgegangen werden. [...]

Damit scheidet nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand ein Anspruch nach dem SGB II unabhängig von der Frage, ob entsprechend der Auffassung der Antragsgegnerin auch die Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greift, bereits wegen fehlender Erwerbsfähigkeit im rechtlichen Sinne (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 i. V. m. § 8 Abs. 2 SGB II) aus. Es ist allerdings ein Anordnungsanspruch auf Verpflichtung der Beigeladenen zur vorläufigen Leistungsgewährung gegeben. Dieser ergibt sich aus § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII, wonach Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, u.a. Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten ist. Der Ausschlussklausel des § 21 S. 1 SGB XII, wonach Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten, unterfallen die Antragsteller nicht, da sie - wie festgestellt - nicht erwerbsfähig i.S. des § 8 SGB II sind. Sie erfüllen auch die Grundvoraussetzung für Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3.Kapitel des SGB XII, weil sie glaubhaft gemacht haben, dass sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, beschaffen können (§ 19 Abs. 1 S. 1 SGB XII).

Im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kann allerdings nicht abschließend geklärt werden, ob der Anspruch auf Sozialhilfe nach § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII ausgeschlossen ist. Danach haben u.a. Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Zu diesem Personenkreis würden die Antragsteller dann nicht gehören, wenn der Antragsteller zu 1) ein Aufenthaltsrecht als niedergelassener selbstständiger Erwerbstätiger nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU hätte. Bei der selbstständigen Erwerbstätigkeit i.S. dieser Vorschrift muss es sich um eine wirtschaftlich relevante Tätigkeit handeln, weshalb völlig untergeordnete, unwesentliche Tätigkeiten nicht genügen. Der erforderliche Wille zur Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit verlangt zudem eine ernstzunehmende Gewinnerzielungsabsicht (vgl. Oberverwaltungsgericht - OVG - Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02.04.2009 - 7 A 11053/08, Rn. 24 m.w.N.).

Davon ausgehend bestehen für die Zeit von Oktober 2009 (Gewerbeanmeldung am 20.10.2009) bis Mai 2010 erhebliche Zweifel, ob es sich um eine wirtschaftlich relevante selbstständige Tätigkeit gehandelt hat. In dieser Zeit hat der Antragstellerin insgesamt lediglich sechs Rechnungen mit einem Gesamtumsatz von 2.830,10 € geschrieben (Rechnungen vom 22.12.2009 - ... - über 450,00 €, vom 02.02.2010 - ..., - über 388,00 €, vom 08.03.2010 - ... Bau - über 150,00 €, vom 15.03.2010 - ... Hoch- und Tiefbau - über 556,00 €, vom 03.05.2010 - ... Hoch- und Tiefbau - über 798,00 € sowie vom 10.05.2010 - - über 488,10 €). Nach Abzug der Kosten hat der Antragsteller nach den vorgelegten Unterlagen in den Monaten Oktober bis Dezember 2009 ein Betriebsergebnis von 407,98 und in den Monaten Januar bis März 2010 von 750,30 € erzielt. Für die nachfolgenden Monate sind keine entsprechenden Berechnungen vorgelegt worden. Der durchschnittliche Gewinn des Antragstellers lag damit in den Monaten Oktober bis Dezember 2009 bei 136.00 € (407,98 : 3) und in den Monaten Januar bis März 2010 bei 250,10 € (750,30 : 3). In den Monaten April/Mai 2010 dürfte der Gewinn angesichts der gestiegenen Umsatzerlöse im Mai 2010 etwas höher gewesen sein. Ob angesichts dieses geringen Nettoeinkommens und des Umstandes, dass der Antragsteller in den Monaten Oktober und November 2009 sowie Januar und April 2010 überhaupt keine Einnahmen erzielt hat, die Grenze zu einer wirtschaftlich relevanten Tätigkeit bereits überschritten worden ist, erscheint zweifelhaft. Darüber hinaus ist aber auch fraglich, ob der Antragsteller überhaupt selbstständig tätig gewesen ist. Zwar spricht die rechtliche Ausgestaltung (Gewerbeanmeldung, Umsatzsteuer-Voranmeldung, Subunternehmervertrag vom 05.03.2010 mit der Fa. ... Bau) für eine selbstständige Erwerbstätigkeit, im Zweifel sind aber - wie das SG zutreffend ausgeführt hat - die tatsächlichen Verhältnisse ausschlaggebend. Es liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller - soweit er auf Baustellen der Firmen ... und ... im Einsatz war und hier etwa Abbruch- und Aufräumarbeiten verrichtet hat - nur seine eigene Arbeitskraft eingebracht hat und damit tatsächlich als abhängig beschäftigter Bauhelfer tätig gewesen ist. Letztlich wird anhand der Gesamtumstände zu entscheiden sein, welche Merkmale überwiegen. Hierzu ist eine vollständige Aufklärung des Sachverhalts erforderlich, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht erfolgen kann.

Für die Zeit ab Juni 2010 kann angesichts der vorgelegten Rechnungen vom 14.06.2010 (3.213,00 €) und vom 05.07.2010 (1.428,00 €) nicht von einer wirtschaftlich unbedeutenden Tätigkeit gesprochen werden. Die von der Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdeerwiderung geäußerten Zweifel, ob der Antragsteller diese Tätigkeiten tatsächlich ausgeübt hat, vermag der Senat nicht ohne weiteres zu teilen. Der Antragsteller bedient sich in steuerlicher Hinsicht nach den vorgelegten Unterlagen fachkundiger Hilfe ("..."), die er - mangels ausreichender Deutschkenntnisse - auch bei der Ausstellung der Rechnungen in Anspruch genommen haben kann. Durch Vorlage der Meldebestätigung haben die Antragsteller glaubhaft gemacht, weiterhin in der in Osnabrück zu wohnen, so dass danach die auf den Rechnungen angegebene Anschrift zutreffend wäre. Dem Hinweis der Antragsgegnerin auf fehlende Fachkenntnisse wäre ggf. im Hauptsacheverfahren nachzugehen, wobei die in den fraglichen Rechnungen aufgeführten Tätigkeiten jedenfalls überwiegend keine besondere berufliche Qualifikation voraussetzen dürften (z.B. Betonabbruch, Pflasterarbeiten, Gartenarbeiten mit Zaunsetzen, Montage von Fahrradständern, Anstricharbeiten). Es ist auch nicht ersichtlich, dass es sich bei dem Auftraggeber ... um einen Gewerbetreibenden handelt, bei dem der Antragsteller nach dem Gesamtbild der Tätigkeit abhängig beschäftigt gewesen sein könnte.

Nach alledem spricht nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand einiges dafür, dass der Antragsteller zu 1) seit Juni 2010 ein Aufenthaltsrecht als niedergelassener selbstständiger Erwerbstätiger nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU hat. Hieraus würde sich für die übrigen Antragsteller ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU ergeben. In dem davorliegenden Zeitraum dürfte der Antragsteller dagegen lediglich ein Aufenthaltsrecht als Arbeitssuchender gehabt haben (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. FreizügG/EU). Da eine vollständige Klärung des Sachverhalts im vorliegenden Verfahren nicht möglich ist, sind den Antragstellern nach den eingangs dargestellten Grundsätzen aufgrund einer Folgenabwägung vorläufige Leistungen zur Sicherstellung ihres Existenzminimums für die Zeit ab dem 01.06.2010 zuzusprechen. [...]