VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 28.07.2010 - 3 A 3189/09 - asyl.net: M17619
https://www.asyl.net/rsdb/M17619
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für psychisch krankes Kind wegen fehlender Finanzierbarkeit der erforderlichen ärztlichen und therapeutischen Behandlung in Aserbaidschan. In Aserbaidschan besteht kein funktionierendes staatliches Krankenversicherungssystem; eine kostenlose medizinische Versorgung gibt es nur noch formell.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Aserbaidschan, Asylfolgeantrag, Wiederaufnahme des Verfahrens, extreme Gefahrenlage, psychische Erkrankung, Depression, Suizidgefahr, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 71 Abs. 1
Auszüge:

Für die minderjährige Klägerin ist die grundsätzlich in Aserbaidschan verfügbare ärztliche und therapeutische Behandlung ihrer psychischen Erkrankung nicht finanzierbar. Ohne eine kontinuierliche Therapie droht ihr im Heimatland eine extreme Gefahr für Leben und Gesundheit.

Zu den Voraussetzungen einer Ermessensreduzierung auf Null beim Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG.

(Amtlicher Leitsatz)

[...]

Die 1996 geborene Klägerin ist aserbaidschanische Staatsangehörige und begehrt im Rahmen eines Asylfolgeverfahrens die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten. [...]

Die Voraussetzungen für die Verpflichtung der Beklagten, den Bescheid vom 13. September 2005 hinsichtlich der Feststellungen zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abzuändern, liegen vor. [...]

Nach den vorliegenden ärztlichen Attesten und Stellungnahmen, den aktuellen Erkenntnismitteln und den Aussagen der Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass eine Rückkehr nach Aserbaidschan für die psychisch erkrankte Klägerin zeitnah zu einer erheblichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands und damit für sie "sehenden Auges" zu einer extremen individuellen Gefahrensituation führen würde. [...]

Nach den angeführten ärztlichen Stellungnahmen und aufgrund der Äußerungen der Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin zur Abwendung einer weiteren Chronifizierung ihrer psychischen Beschwerden und vor allem zur Abwehr möglicher Suizidabsichten zwingend einer weiteren Behandlung bedarf.

Psychische Erkrankungen sind in Aserbaidschan zwar grundsätzlich behandelbar (vgl. etwa Auskunft des TransKaukasus-Instituts vom 26. Oktober 2007 sowie Auskunft der Botschaft ... an das Bundesamt vom 26. November 2009). Krankenhäuser ebenso wie Kinderkrankenhäuser und psychiatrische Einrichtungen befinden sich überwiegend in der Hauptstadt, in den daneben in acht Städten vorhandenen psychoneurologischen Versorgungseinrichtungen besteht auch eine ambulante Behandlungsmöglichkeit, in ... auch für Kinder (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. September 2009 sowie Auskunft des TransKaukasus-Instituts vom 26. Oktober 2007).

Allerdings hat das Gericht erhebliche Zweifel, ob diese Behandlungsmöglichkeit der Klägerin in ausreichendem Umfang zugänglich wäre. Das Gesundheitssystem in Aserbaidschan ist in einem schlechten Zustand. Es besteht kein funktionierendes staatliches Krankenversicherungssystem; eine kostenlose medizinische Versorgung gibt es nur noch formell (vgl. Auskunft der Botschaft ... an das Bundesamt vom 26. November 2009 sowie VG Minden, Urteil vom 19. November 2008 - 11 K 2420/08 A - V.n.b. und VG Freiburg, Urteil vom 28. August 2007 - A 4 K 100/06 - V.n.b.). Neben der staatlichen Gesundheitsversorgung bildet sich ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes derzeit ein privater medizinischer Sektor heraus, der gegen Barzahlung medizinische Leistungen auf annähernd europäischen Standard bietet und mit privaten Krankenversicherungen kooperiert. Der größte Teil der Bevölkerung kann sich eine solche medizinische Versorgung jedoch nicht leisten (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. September 2009). Durch die starke Beteiligung der Patienten an den Gesundheitskosten durch direkte Zahlungen besteht die Gefahr des Ausschlusses des ärmsten Teils der Bevölkerung vom Zugang zum Gesundheitssystem (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 8. Juni 2006: Ärztliche Versorgung in Aserbaidschan).

Die grundsätzlich verfügbare ärztliche bzw. therapeutische Behandlung könnte sich die Klägerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht leisten. [...]

Der Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes steht nicht entgegen, dass sich die psychischen Probleme der Klägerin wohl teilweise aufgrund ihres unsicheren ausländerrechtlichen Status und der Lebenssituation in Deutschland ergeben. Denn durch die Auflösung dieses Zustands in Deutschland durch die Rückreise in ihr Heimatland würde sich die psychische Labilität der Klägerin aller Wahrscheinlichkeit nach in dem ausgeführten Umfang weiter verstärken, so dass das Eintreten einer extremen Gefahr im Heimatland unabhängig von der Ursache der Erkrankung festgestellt werden muss.

Bei dieser Sachlage steht der Beklagten daher keine andere Entscheidungsmöglichkeit als die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mehr offen. [...]