BAMF

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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 30.09.2010 - 5360945-160 - asyl.net: M17678
https://www.asyl.net/rsdb/M17678
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot wegen fehlender Erreichbarkeit der erforderlichen medizinischen und therapeutischen Versorgung in der Russischen Förderation (PTBS). Nach dem Gesetz hat jeder russische Bürger Anspruch auf kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden zumindest aufwändigere Behandlungen erst nach privater Bezahlung durchgeführt.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Abschiebungsverbot, Russische Föderation, Tschetschenien, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Suizidgefahr, Wiederaufnahme des Verfahrens, erhebliche individuelle Gefahr, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Bezug nehmend auf o.g. Kriterien ist im vorliegenden Fall von einer erheblich konkreten Gefahr auszugehen.

Das vorgelegte Attest vom 04.08.2010 diagnostiziert eine posttraumatische Belastungsstörung, Angst- und depressive Störung, gemischt. Danach hat der Betroffene den Unterzeichner am 17.06.2009 erstmalig aufgesucht. Er ist hochgradig therapiebedürfig, ein Ende der Behandlung ist vorerst nicht absehbar. Eine Kurzschlussreaktion im Fall einer Abschiebung ist nicht auszuschließen und ist auch nicht vorhersehbar. Es ist schließlich mit einer Retraumatisierung zu rechnen.

Gemäß dem ärztlichen Schreiben vom 09.08.2010 leidet der Antragsteller zudem an einer Refluxoesophagitis, die mittels eines Protonenpumpenhemmers (Omep 20 1 x täglich) behandelt werden muss.

Gemäß der von der Ausländerbehörde vorgelegten ärztlichen Bescheinigung vom 16.09.2010 ist der Betroffene bis auf weiteres nicht reisefähig wegen posttraumatischer Belastungsstörung, Angst und Depression sowie Suizidgedanken mit Planung eines erweiterten Freitods aller Familienmitglieder bei Abschiebung. Es ist derzeit auch nicht absehbar, wie lange die Reiseunfähigkeit dauern wird.

Die medizinische Grundversorgung in Russland ist zwar auf einfachem Niveau grundsätzlich ausreichend. Zumindest in den Großstädten, wie z.B. Moskau und St. Petersburg, sind auch das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen vorhanden. Nach Einschätzung westlicher Nichtregierungsorganisationen ist das Hauptproblem weniger die fehlende technische oder finanzielle Ausstattung, sondern ein gravierender Ärztemangel. Allerdings ist medizinische Hilfe heute in Russland oftmals eine Kostenfrage: Die Zeiten der kostenlosen sowjetischen Gesundheitsfürsorge sind vorbei, eine beitragsfinanzierte medizinische Versorgung ist erst in der Planung. Theoretisch hat jeder russische Bürger das Anrecht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden zumindest aufwändigere Behandlungen erst nach privater Bezahlung durchgeführt. Dabei zeigt sich im Alltag häufig, dass von mittellosen und wenig verdienenden Personen nichts bzw. wenig an Zusatzzahlungen verlangt wird, bei normal bis gut verdienenden Personen hingegen mehr. Private Praxen nehmen in den Mittel- und Großstädten deutlich zu. Die Versorgung mit Medikamenten ist zumindest in den Großstädten gut, aber nicht kostenfrei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Gz.: 508-516.80/3 RUS).

Der Ausländer ist ferner gemäß seinem Vortrag tschetschenischer Volkszugehörigkeit und bereits seit 2003 im Bundesgebiet.

Die Lebensumstände in Tschetschenien haben sich für die Mehrheit der Bevölkerung nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen seit 2007 im Vergleich zu den Jahren davor deutlich verbessert. Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheits- als auch bei der Menschenrechtslage hat sich die Situation in diesen beiden Bereichen seit Herbst 2008 insgesamt betrachtet wieder verschlechtert. Berichtet wird auch von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Gz.: 508-516.80/3 RUS).

Diese genannten Umstände hätten daher zur Folge, dass eine erforderliche Behandlung in der Russischen Föderation, insbesondere in Tschetschenien für den Antragsteller so nicht erlangbar ist. Die Symptomatik würde sich verschlechtern und dann zu einer Gefährdung i. o.g. Sinne führen. Denn mit Blick auf die vorgelegte Stellungnahme und die persönliche Situation ist davon auszugehen, dass es sich im Fall des Ausländers um einen Ausnahmefall handelt und er daher nicht auf die grundsätzlich in der Russischen Föderation bestehenden Behandlungsmöglichkeiten - eine individuelle Verfügbarkeit zudem unterstellt - verwiesen werden kann. [...]