BAMF

Merkliste
Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 15.09.2010 - 5414308-423 - asyl.net: M17714
https://www.asyl.net/rsdb/M17714
Leitsatz:

1. Das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts ist nur für wenige Regionen Afghanistans zu verneinen. Derzeit lässt sich aber für keine der Provinzen, in denen das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts nicht ausgeschlossen werden kann, feststellen, dass für zurückkehrende Personen dort eine erhebliche individuelle Gefahr besteht (§ 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG).

2. Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da der 19-jährige Antragsteller in Afghanistan keine Verwandten mehr hat, den überwiegenden Teil seines Lebens im Iran verbracht und keine Schulbildung hat. Er könnte bei einer Rückkehr daher keine Existenzgrundlage aufbauen.

Schlagwörter: Asylverfahren, Abschiebungsverbot, Afghanistan, Iran, Griechenland, Italien, Frankreich, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, erhebliche individuelle Gefahr, Existenzgrundlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Von einer Abschiebung ist gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch abzusehen, wenn dem Antragsteller im Rahmen eines in seinem Herkunftsland bestehenden internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts als Zivilperson erhebliche individuelle Gefahren für Leib oder Leben drohen.

Die durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19.08.2007 neu in das AufenthG eingefügte Bestimmung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entspricht nach Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts trotz teilweise geringfügig abweichender Formulierung den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c QualfRL. Insbesondere müssen die Gefahren auch infolge willkürlicher Gewalt drohen. Dieses in Art. 15 Buchst. c QualfRL genannte Merkmal ist zwar nicht ausdrücklich in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG übernommen worden, ist aber im Rahmen des Abschiebungsverbots dennoch zu prüfen, da die Begründung zum Entwurf des Richtlinienumsetzungsgesetzes ausdrücklich darauf verweist, dass § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Tatbestandsmerkmale des Art. 15 Buchst. c QualfRL umfasst und den subsidiären Schutz in Fällen willkürlicher Gewalt regelt (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 u.a.).

Im Herkunftsland des Antragstellers oder der Region des Herkunftslandes, aus der der Antragsteller kommt, muss ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegen.

In Teilen Afghanistans finden Auseinandersetzungen zwischen nationalen und internationalen Sicherheitskräften einerseits und organisierten bewaffneten Gruppen andererseits statt.

Bei den Gegnern, die den afghanischen Sicherheitskräften und den ausländischen Truppen gegenüberstehen, kann zwar häufig nicht eindeutig bestimmt werden, um welche Gruppierung es sich im Einzelnen handelt. Die Vielfalt der Gruppen und ihre Vernetzung untereinander wird in dem Akronym "AGE" deutlich, das für "Anti-Government Elements" steht und von den Koalitionstruppen und der afghanischen Regierung als Bezeichnung für die Aufständischen benutzt wird. Gemeint sind damit sowohl Stammesmilizen, die der Regierung ihre Autorität streitig machen, kriminelle Vereinigungen, insbesondere aus dem Drogengeschäft, und vor allem ideologische Feinde der Regierung wie die Taliban oder die Hizb-e Islami. Aber auch die Taliban können nach heutiger Einschätzung nicht als homogene Gruppe angesehen werden. Vielmehr vereinigen sich hier zahlreiche militante Gruppen, von denen einige als politische Gruppierung organisiert sind und andere auf Stammes- bzw. regionalen Verbindungen beruhen.

Dennoch kann von organisierten bewaffneten Gruppen gesprochen werden. Es besteht eine gewisse Organisationsstruktur, die es den Taliban und den mit ihnen verbündeten Gruppen ermöglicht, gezielte Anschläge und Militäraktionen auszuführen. Seit dem Jahr 2007 haben die Taliban ihre militärische Taktik zur Erreichung der strategischen Ziele geändert. Sie sind bestrebt, verlustreiche Angriffe größerer Verbände zu vermeiden und setzen deshalb verstärkt auf eine Art Guerilla-Taktik. Im Wesentlichen kommen dabei Selbstmordattentäter und Landminen zum Einsatz.

Das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts ist nur für wenige Regionen Afghanistans zu verneinen. In vielen Regionen Afghanistans ist die Gewaltsituation zu nachhaltig, als dass von vereinzelt auftretenden Ereignissen gesprochen werden könnte.

Kriminelle Gewaltakte dürfen bei der Feststellung, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, jedenfalls dann keine Berücksichtigung finden, wenn sie nicht von einer Konfliktpartei begangen werden.

Als Konfliktgegner der afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte sind "die Aufständischen" anzusehen. Da diese ungeachtet der Frage nach ihrem Organisationsgrad das gemeinsame Ziel verfolgen, die jetzige Regierung zu stürzen und die ausländischen Truppen zu vertreiben, ist die von ihnen ausgehende Gewalt nicht als allein kriminell anzusehen.

Aufgrund der hohen Zahl der Vorfälle mit Todesopfern ist das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zumindest für den Süden (Provinzen Helmand, Kandahar, Uruzgan, Zabul) und den Südosten (Provinzen Paktika, Khost, Paktya) nicht auszuschließen. Gleiches gilt im Osten für die Provinzen Kunar, Laghman, Nuristan und große Teile der Provinz Nangarhar, im Westen für die Provinzen Farah, Nimroz, Badghis, Ghor und Teile von Herat, sowie im Zentrum für die Provinzen Ghazni, Maidan-Wardak, Logar und einige Distrikte der Provinzen Kapisa, Parwan, Daikundi und Kabul. im Nordwesten und Nordosten gibt es Berichte über sicherheitsrelevante Vorfälle in einigen Distrikten der Provinzen Faryab, Baghlan und Kunduz.

Voraussetzung für eine mögliche Schutzgewährung ist weiterhin, dass der Antragsteller Angehöriger der Zivilbevölkerung ist.

Voraussetzung für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist außerdem, dass dem Antragsteller im Rahmen des bewaffneten Konflikts erhebliche individuelle Gefahren für Leib oder Leben drohen.

Da in einem bewaffneten Konflikt typischerweise zunächst einmal allgemeine Bedrohungen im Vordergrund stehen, sind diese von den für eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu fordernden, dem Antragsteller individuell drohenden Gefahren abzugrenzen. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, der bei Vorliegen allgemeiner Gefahren die Entscheidung über eine Schutzgewährung im Verfahren des Bundesamtes sperrt und den obersten Landesbehörden im Rahmen des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zuweist, ist dabei richtlinienkonform dahin auszulegen, dass § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bei Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 c QualfRL keine Sperrwirkung entfaltet (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 u.a.).

Dem Antragsteller drohen aufgrund der gegebenen Situation bei einer Rückkehr keine erheblichen individuellen Gefahren. [...]

Sowohl der EuGH als auch BVerwG gehen davon aus, dass Situationen willkürlicher Gewalt (EuGH) bzw. einer Verdichtung allgemeiner Gefahren (BVerwG), die das für die Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau erreichen, Ausnahmecharakter haben. Dies belegt auch der Erwägungsgrundes Nr. 26 zur QualfRL, wonach Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe des Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen.

Derzeit lässt sich für keine der Provinzen, in denen das Vorliegen eines bewaffneten Konfliktes nicht ausgeschlossen werden kann, feststellen, dass allein durch die Anwesenheit der in diese Gebiete zurückkehrenden Personen für sie eine erhebliche individuelle Gefahr besteht. Die Auseinandersetzungen in diesen Gebieten haben bislang noch nicht eine Intensität erreicht, die die Schlussfolgerung erlauben würde, dass für jede Zivilperson, die sich in diesen Gebieten aufhält, die Gefahr besteht, zwangsläufig von den dort stattfindenden bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen zu werden. [...]

Es liegt ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Afghanistan vor.

Von einer Abschiebung soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dem Ausländer eine erhebliche individuelle und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht.

Unter Berücksichtigung des Vorbringens des Antragstellers ist davon auszugehen, dass er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht darauf hoffen kann, von im Heimatland lebenden Verwandten oder Clanzugehörigen unterstützt zu werden. Der Antragsteller hat geltend gemacht, dass sein Vater von einem Onkel bedroht wurde und die Familie daher Afghanistan verlassen musste. Dass weitere Verwandte in Afghanistan leben, die bereit sein könnten, den Antragsteller zu unterstützen, lässt sich dem Vorbringen des Antragstellers nicht entnehmen.

Der Antragsteller hat die meiste Zeit seines Lebens auch nicht in Afghanistan, sondern im Iran verbracht, so dass er mit den Lebensumständen in Afghanistan nicht vertraut ist. Er verfügt zudem über keine Schulbildung. Vor diesem Hintergrund kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller in der Lage wäre, sich in Afghanistan ohne die Hilfe seiner Verwandten eine eigene Existenzgrundlage aufzubauen. Somit ist ihm eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zuzumuten.