VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 06.05.2010 - AN 14 K 10.30032 - asyl.net: M17766
https://www.asyl.net/rsdb/M17766
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen vorverfolgten jungen Yeziden aus dem Nordirak.

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Anmerkung der Redaktion: Das Urteil ist nach Angaben des Einsenders RA Wolfram Steckbeck, Nürnberg, rechtskräftig.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Asylverfahren, Irak, Nordirak, Yeziden, Vorverfolgung, Diskriminierung, Mosul, nichtstaatliche Verfolgung, religiöse Verfolgung, interne Fluchtalternative, Kurden, Existenzgrundlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass der bewaffnete Angriff auf den Alkoholladen im September 2009, in dem der Kläger gearbeitet hat, auf die religiöse Überzeugung der dort Anwesenden abgezielt hat.

Jeziden unterliegen auch im Nordirak einem erhöhten spezifischen Verfolgungsrisiko durch nichtstaatliche Akteure. Ihr tägliches Leben ist insbesondere in den größeren Städten von einem Klima latenter Diskriminierung und Ausgrenzung geprägt. Immer wieder kommt es zu Anschlägen auf von Jeziden betriebene Einrichtungen oder Geschäfte, in denen nach islamischer Vorstellung missbilligte Waren oder Dienstleistungen angeboten werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Jeziden von solchen Übergriffen in besonderem Maße betroffen sind, da beispielsweise der Betrieb eines Geschäfts mit traditionellem Alkoholverkauf oftmals die einzige Einnahmequelle darstellt. Zudem wird immer wieder berichtet, dass Jeziden ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse nicht verkaufen können bzw. die Preise erheblichen senken müssen, weil ein Teil der Muslime es ablehnt, bei Ungläubigen zu kaufen. Jeziden können nicht alle möglichen Arbeitsplätze bekommen. Muslimische Geistliche beschwören auch in kurdischen Städten Hass und Verachtung gegenüber den nichtmuslimischen Minderheiten und der Umgang mit Jeziden gilt als verfemt. Schließlich wird Jeziden eine Mitschuld an der desolaten wirtschaftlichen Lage gegeben (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.1.2007; UNHCR, Hintergrundinformationen zur Gefährdung von Angehörigen religiösen Minderheiten im Irak; Eidgenössisches Bundesamt für Migration BFM, Focus Irak; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien vom 17.2.2010 an das VG München; UNHCR-Position zum Schutzbedarf irakischer Asylsuchender und zu den Möglichkeiten der Rückkehr irakischer Staatsangehöriger in Sicherheit und Würde vom 22.5.2009).

Die glaubhafte Verfolgungsgeschichte des Klägers stimmt daher auch mit der Auskunftslage überein, zudem war zu berücksichtigen, dass sich der Alkoholladen in unmittelbarer Nähe der Stadt Mosul (Entfernung ca. 4 km Luftlinie) befunden hat und Mosul als no-go-aera für Jeziden gilt (vgl. dazu: EZKS an das VG Ansbach vom 26.3.2007 und an den BayVGH vom 17.2.2010; GIGA, an das VG Düsseldorf vom 2.4.2007). Diese Art von Verfolgungsmaßnahmen geht im Irak regelmäßig von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG aus. Das Gericht schließt sich hier der Auffassung von Amnesty International an, wonach die wiederholten Anschlagsserien auf Geschäfte und Restaurants mit Alkoholverkauf als Indiz für eine zunehmende Bereitschaft radikaler islamischer Kreise gewertet werden muss, traditionelle Moralvorstellungen und Verhaltensweisen auch gewaltsam durchzusetzen. Dabei ist die Grenze, ob ein Mordanschlag auf Grund des Glaubens der Opfer oder nur auf Grund ihres Berufes (die Berufsausübung widerspricht nach Auffassung der Attentäter den islamischen Glaubensrichtlinien) erfolgte, nur schwer zu ziehen. Allerdings ist bei diesem im Irak typisch nicht-muslimischen Berufszweig (Alkoholverkäufer) in der Regel davon auszugehen, dass bei den Attentaten und gewaltsamen Übergriffen eine religiöse Komponente enthalten ist (Amnesty International an das VG Köln, Berlin vom 16.8.2005). Das Gericht geht daher auch von einer spezifischen Zielrichtung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bei dem Mordanschlag aus. Der Kläger hat somit vorverfolgt seine Heimat verlassen. In diesem Zusammenhang muss nicht geklärt werden, ob eine inländische Fluchtaltrnative bestünde. Im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung nach der Qualifikationsrichtlinie sind - anders als für das Asylrecht nach Art. 16a GG - in einem Teil ihres Heimatlandes Verfolgte oder von Verfolgung Bedrohte, die zum Zeitpunkt ihrer Ausreise in anderen Landesteilen den erforderlichen Schutz hätten finden können, als vorverfolgt anzusehen. Insofern ist der Begriff der Vorverfolgung nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie anders zu verstehen, als im Rahmen des Asylrechts, wonach eine landesweit ausweglose Lage des Asylbewerbers im Zeitpunkt der Ausreise erforderlich ist. Der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab findet zugunsten des Klägers somit in jedem Fall Anwendung (BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -).

Für den Kläger besteht jedoch abgesehen davon keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG. Nach den vorliegenden Auskünften kommt für den nur kurdisch sprechenden Kläger, dessen Familie in Katare lebt, nur ein anderer Bereich des Nordirak in Frage. Dort ist jedoch eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen (§ 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie). Neben Übergriffen durch islamische Extremisten berichtet der neueste Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. April 2010 in den Siedlungsgebieten der Jeziden im Nordirak inzwischen auch von sporadischen Übergriffen von Peshmerga-Einheiten gegen jezidische Dörfer. Gewalttaten in den Siedlungsgebieten der Jeziden werden auch bis in die jüngste Zeit gemeldet, so kamen bei einem Bombenanschlag auf ein Café in Sinjar am 18. August 2009 21 Jeziden ums Leben. Zudem handelt es sich bei der Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative anderswo im Nordirak um eine rein theoretische Möglichkeit. Wie die Auskunft der EZKS vom 17. Februar 2010 an das Verwaltungsgericht München nachweist, existiert schon rein faktisch keine bemerkenswerte reale Wanderungsbewegung von jezidischen Familien in irakische oder irakisch-kurdische Städte. Auch eine vermehrte Zuwanderung in die ethnisch und religiös gemischte Stadt Sinjar ist ausgeblieben. Lediglich aus der für Jeziden lebensgefährlichen Stadt Mosul sind einige Familien in die sichereren, ethnisch und religiös gemischten Städte Ain Sifni, Baschika und Bahzani umgezogen. Die benannte Auskunft weist darauf hin, dass ausschlaggebend für dieses überraschende Ergebnis ist, dass sich die Familien das Leben in den Städten der Region der kurdischen Regionalregierung schlechterdings nicht leisten können. Zudem sind Arbeitsplätze nur schwer zu erhalten und die wenigen vorhandenen Arbeitsstellen sind schlecht bezahlt. Da zudem die kurdische Regionalregierung nach den Kenntnissen des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien Jeziden aus den umstrittenen Gebieten bis heute die Registrierung und damit den Bezug der subventionierten Lebensmittelrationen vorenthält, hätten zuziehende jezidische Familien zusätzliche Probleme, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Zwar hat die kurdische Regionsregierung durchaus ein Interesse, Jeziden in den umstrittenen Gebieten Sinjar, Scheichan zu schützen, jedenfalls solange es sich nicht um oppositionell tätige Jeziden handelt, allerdings sind ihre Peshmerga-Truppen hierzu nur eingeschränkt in der Lage. Die Irakische Armee ihrerseits ist weder in der Lage Jeziden Schutz zu gewähren, noch kann der Wille hierzu vorausgesetzt werden. Von einer inländischen Fluchtalternative kann daher schon mangels wirtschaftlicher Verfügbarkeit (Miete, Arbeitsplatz, Lebensmittelrationen) nicht ausgegangen werden. Auch das Gutachten zur Situation der Jeziden im Irak vom Oktober 2005 des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien geht davon aus, dass es für Jeziden schwierig ist, beispielsweise in Dohuk, Arbil oder Suleymaniya Schutz zu finden. Dies wird ebenfalls mit der Schwierigkeit begründet, dort ein ökonomisches Auskommen zu finden. Entsprechende Arbeitsstellen sind nur auf Grund guter Kontakte zu den kurdischen Parteien bzw. tragfähiger verwandtschaftlicher Kontakte zu erhalten. So kann man für einen Stammesführer mit entsprechender Gefolgschaft mit Unterstützung für seinen Sohn rechnen, nicht aber für einen durchschnittlichen Jeziden ohne gute persönliche Kontakte. Zudem haben Rückkehrer aus Deutschland von der kurdischen Regionalregierung keine Unterstützung zu erwarten. [...]