VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 24.03.2010 - AN 10 K 09.30279 - asyl.net: M17767
https://www.asyl.net/rsdb/M17767
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot für ältere Tschetschenin hinsichtlich der Russischen Föderation (u. a. Depression). Auf die - theoretische - Kostenfreiheit einer medizinischen Vorsorge kann die Klägerin nicht verwiesen werden, denn diese besteht nach der Auskunftslage lediglich für registrierte russische Staatsangehörige und für Staatenlose und ausländische Staatsangehörige, die einen geregelten Aufenthaltsstatus in der Russischen Föderation haben.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Russische Föderation, Tschetschenien, Krankheit, Depression, extreme Gefahrenlage, ältere Person, allgemeine Gefahr, Sperrwirkung, Wiederaufnahme des Verfahrens, medizinische Versorgung, Existenzgrundlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 7 S. 3
Auszüge:

[...]

Auf die zulässige Klage hin war die Beklagte zu verpflichten, das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen, weil in der Person der Klägerin wegen der von ihr in der Russischen Föderation aus finanziellen Gründen nicht ausreichend erlangbaren medizinischen Behandlung eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben im Sinne dieser Vorschrift gegeben ist und ungeachtet der hieraus resultierenden Gruppenbetroffenheit der Klägerin im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG im Unterschied zu einer Vielzahl sonstiger Fälle zudem die Voraussetzungen für eine extreme Gefährdungslage vorliegen. [...]

Die Klägerin hat vor allem durch die im gerichtlichen Verfahren jüngst vorgelegten Atteste belegt, dass sie an einer schweren Depression und den damit verbundenen Krankheiten leidet (vgl. insbesondere die zeitlich aktuellen Atteste vom 9.9.2009, 15.9.2009 und Stellungnahme des Amtsarztes vom 2.12.2009).

Eine Behandlung dieses Krankheitsbildes ist zwar grundsätzlich in der Russischen Föderation möglich (vgl. Lagebericht vom 30.7.2009), erfordert aber - selbst für eine Behandlung nach dem dortigen Landesstandard - erhebliche finanzielle Aufwendungen, welche eine Betroffene grundsätzlich allein tragen muss. Auf die - theoretische - Kostenfreiheit einer medizinischen Vorsorge in der Russischen Föderation kann die Klägerin vorliegend nicht verwiesen werden, denn diese besteht nach der Auskunftslage lediglich für registrierte russische Staatsangehörige und für Staatenlose und ausländische Staatsangehörige, die einen geregelten Aufenthaltsstatus in der Russischen Föderation haben (vgl. auch VG Minden, Urteil vom 20.12.2006, 4 K 4665/03 A). Zu diesem Personenkreis gehört die Klägerin nach Aktenlage nicht. Die Klägerin hätte daher im Ergebnis bei einer Rückkehr in die Russische Föderation zumindest in der ersten Zeit keinen Anspruch auf kostenfreie medizinische Behandlung (vgl. hierzu auch BayVGH, Urteil vom 31.8.2007, 11 B 02.31724 und BVerwG, Urteil vom 19.1.2009, 10 C 52.07). Die Klägerin kann die nach den vorliegenden Attesten gebotene engmaschige und unverzügliche Weiterbehandlung aber auch nicht aus eigenen Mitteln erreichen. [...]

Die Klägerin wäre allerdings nur als Mitglied der Gruppe derjenigen russisch-tschetschenischen Staatsangehörigen betroffen, welche aus wirtschaftlichen Gründen zu Leistungen des russischen Gesundheitswesens keinen (ausreichenden) Zugang haben. Allein die bekannt hohe Anzahl Gleichbetroffener würde das Bedürfnis nach einer politischen Grundsatzentscheidung im Sinne von (jetzt) § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG begründen (vgl. hierzu BVerwG vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 <juris>, insbesondere RdNr. 12). Diese Gruppenbetroffenheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sperrt - grundsätzlich - die Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwG vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 und vom 12.7.2001 - 1 C 2.01, jeweils entschieden noch zu § 53 Abs. 6 AuslG).

Es liegt jedoch im Fall der Klägerin eine ausnahmsweise anzunehmende extreme Gefährdungslage vor, welche in verfassungskonformer Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 3 die Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfordert (vgl. BVerwG vom 18.12.1998 - 9 C 4.98 <juris>), da nach der Beschreibung des Krankheitsbildes alsbald nach der Rückkehr zumindest mit schwersten Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zu rechnen ist (vgl. hierzu zusammenfassend BVerwG vom 8.12.1998 - 9 C 4.98 <juris>, insbesondere RdNr. 13). An dieser Rechtsprechung hält das Bundesverwaltungsgericht nach wie vor fest (vgl. Entscheidung vom 14.11.2007 - 10 B 47.07 <juris>, insbesondere RdNr. 3). [...]