OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 28.10.2010 - 8 A 229/09 - asyl.net: M17792
https://www.asyl.net/rsdb/M17792
Leitsatz:

1. Zur Klärung der Identität (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG) bedarf es nicht zwingend der Vorlage eines gültigen Passes, sondern lediglich der Vorlage hierzu geeigneter Dokumente (z.B. Geburtsurkunde oder andere amtliche Dokumente). Die Identität ist danach auch geklärt, wenn die Staatsangehörigkeit nicht feststeht (vorliegend genügt die "Licna Karta" der ehemaligen Republik Jugoslawien als Identitätsnachweis).

2. Von der Erteilungsvoraussetzung der Passpflicht für eine Aufenthaltserlaubnis (hier nach § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG/Bleiberecht) ist vorliegend abzusehen (§ 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG), denn der Kläger müsste hierfür in die Republik Kosovo reisen und würde dadurch seinen Arbeitsplatz verlieren.

Schlagwörter: Altfallregelung, Bleiberecht, Berufungszulassung, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Identitätsfeststellung, Kosovo, Passpflicht, Pass, Passbeschaffung, Licna Karta, Duldung, Unterbrechung, Aufenthaltsdauer, Mitwirkungspflicht, Zumutbarkeit, Arbeitsverhältnis, Vorabzustimmung, Visum, Visakodex, Ermessen
Normen: AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1a, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 85, AufenthG § 3, AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 104a Abs. 1 S. 3, VO 810/2009 Art. 4
Auszüge:

[...]

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses den Beklagten unter teilweiser Aufhebung seines Bescheides vom 28. Mai 2008 verpflichtet hat, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, zugleich als Ausweisersatzpapier, zu erteilen, ist zulässig, aber unbegründet.

Der Beklagte hat seinen Antrag auf die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.) gestützt. Diese Zulassungsgründe sind nicht hinreichend dargelegt worden und liegen im Übrigen nicht vor. [...]

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass die Identität des Ausländers und, falls er nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist, seine Staatsangehörigkeit geklärt ist.

Die Klärung der Identität dient dem Ausschluss von Verwechslungsgefahren. Die Identität ist daher grundsätzlich dann geklärt, wenn Vorname und Name sowie Tag und Ort der Geburt feststehen (vgl. GK-AufenthG, Stand: September 2010, § 5 Rn. 80). Diese Feststellungen ermöglicht in der Regel ein gültiger Pass oder Passersatz. Liegen diese Dokumente nicht vor, kann die Identität aber auch durch andere geeignete Mittel nachgewiesen werden (vgl. Nr. 5. 1.1 a Satz 1 und 2 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - AVwV AufenthG - vom 26. Oktober 2009, GMBl. S. 877). Zur Klärung der Identität bedarf es daher nicht zwingend der Vorlage eines gültigen Passes, sondern lediglich der Vorlage hierzu geeigneter Dokumente. Als solche kommen in Betracht die Geburtsurkunde oder andere amtliche Dokumente (vgl. Nr. 5.1.1 a Satz 2 AVwV AufenthG).

Ein solches anderes amtliches Dokument kann entgegen der Auffassung des Beklagten auch ein abgelaufener oder von den Behörden eines untergegangenen Staates ausgestellter Pass sein, wenn an dessen Echtheit oder der Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben keine begründeten Zweifel bestehen. So verhält es sich hier. Der vom Kläger bei der Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 1999 vorgelegte und seinerzeit gültige Personalausweis der früheren Republik Jugoslawien weist Vorname und Name sowie Tag und Ort der Geburt des Klägers aus. Begründete Zweifel an der Echtheit dieses Personalausweises und der Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben hat der Beklagte nicht geäußert. Solche sind für den Senat auch nicht ersichtlich.

Der weitergehende Einwand des Beklagten, aus dem Personalausweis der früheren Republik Jugoslawien ergebe sich nicht die derzeitige Staatsangehörigkeit des Klägers, ist für sich zwar zutreffend. Er führt aber nicht zum Entfall der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG. Denn für die danach zu klärende Identität des Ausländers ist dessen Staatsangehörigkeit ohne Belang; die Identität ist nach den vorstehend aufgestellten Nachweisanforderungen auch dann geklärt, wenn die Staatsangehörigkeit nicht feststeht. Das Erfordernis einer geklärten Staatsangehörigkeit besteht vielmehr auch nach dem klaren Wortlaut des § 5 Abs. 1 Nr. 1 a AufenthG neben dem Erfordernis einer geklärten Identität (vgl. Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, Stand: Juli 2009, AufenthG, § 5 Rn. 22). Entgegen der Auffassung des Beklagten wird eine geklärte Staatsangehörigkeit von § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG zudem nicht stets als allgemeine Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gefordert. Dieses Erfordernis besteht nach dem - insoweit von der Vorgängerregelung in § 8 Abs. 1 Nr. 4 AuslG in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung des Gesetzes vom 9. Januar 2002 (BGBl. I S. 361) abweichenden - Wortlaut des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG nur, falls der Ausländer nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist (vgl. GK-AufenthG, a.a.O., § 5 Rn. 75). Da eine solche fehlende Rückkehrberechtigung des Klägers selbst vom Beklagten nicht angenommen wird, ist im vorliegenden Fall an dieser Stelle der Weg zu einer expliziten und eigenständigen Prüfung der Staatsangehörigkeit verwehrt, so dass die Ablehnung der vom Kläger begehrten Aufenthaltserlaubnis von vornherein nicht auf die vom Beklagten behauptete mangelnde Klärung der Staatsangehörigkeit gestützt werden kann.

Obwohl nicht mehr entscheidungserheblich, weist der Senat darauf hin, dass derzeit keine Anhaltspunkte bestehen, die Zweifel an der kosovarischen Staatsangehörigkeit des Klägers begründen könnten. Nach Art. 29.1 Gesetz Nr. 03/L-034 über die Staatsangehörigkeit von Kosovo vom 20. Februar 2008 (zitiert nach Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Stand: Mai 2010, Kosovo, S. 12 ff.) werden alle Personen, die am 1. Januar 1998 Staatsangehörige der Föderativen Republik Jugoslawien waren und an dem Tag ihren ständigen Wohnsitz in Kosovo hatten, als Staatsangehörige der Republik Kosovo angesehen. Diese Voraussetzungen dürfte der Kläger erfüllen. Nach dem vorgelegten Personalausweis der früheren Republik Jugoslawien war der Kläger Angehöriger dieses Staates. Ausweislich der bisher unwiderlegten und anwaltlich beglaubigten Aussage des Bruders des Klägers, Herr ... vom 30. Juli 2003 hat der Kläger bis zu seiner Flucht Ende März 1999 mit seiner Familie seinen Wohnsitz im Ort ..., Gemeinde ... im Kosovo gehabt.

Darüber hinaus setzt nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass die Passpflicht nach § 3 AufenthG erfüllt wird. Nach Absatz 1 Satz 1 dieser Bestimmung dürfen Ausländer grundsätzlich nur in das Bundesgebiet einreisen oder sich darin aufhalten, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen.

Hier hat der Kläger bei der Einreise im Jahr 1999 zwar einen seinerzeit gültigen und anerkannten Personalausweis der früheren Republik Jugoslawien besessen. Derzeit hält er sich im Bundesgebiet aber ohne einen gültigen Pass auf.

Von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG kann nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes, den der Kläger mit der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG hier begehrt (vgl. 104a Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 AufenthG), indes abgesehen werden. Dies setzt allerdings voraus, dass dem Ausländer die Beschaffung eines Passes nicht zumutbar ist (vgl. § 5 Abs. 1 AufenthV).

Die Frage, welche konkreten Initiativ- und Mitwirkungshandlungen zur Erlangung eines Passes dem Ausländer zumutbar sind, beurteilt sich unter Berücksichtigung aller Umstände und Besonderheiten des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.6.2006 - 1 B 54.06 -, Buchholz 402.242 AufenthG § 25 Nr. 4). Grundsätzlich sind sämtliche Handlungen zumutbar, die zur Beschaffung eines zur Ausreise notwendigen Dokuments erforderlich sind und nur vom Ausländer persönlich vorgenommen werden können (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 9.7.2009 - 4 PA 365/08 -, juris Rn. 3 m.w.N.).

Hier ist vom Beklagten mit dem Zulassungsvorbringen die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger könne einen kosovarischen Pass derzeit nicht im Bundesgebiet beschaffen, sondern müsse jedenfalls zur Beantragung und Abholung des Passes in den Kosovo reisen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo (Stand: Mai 2010), S. 35; Mitteilung der Konsularabteilung der Botschaft der Republik Kosovo in Berlin v. 5.1.2010, Bl. 121 GA), nicht in Frage gestellt worden.

Die danach zur Passbeschaffung erforderliche Reise in das Ausland kann dem Ausländer auch grundsätzlich zugemutet werden (vgl. Niedersächsisches OVG, Urt. v. 26.2.2009 - 11 LB 270/08 -, Umdruck S. 17). Im vorliegenden Einzelfall hat das Verwaltungsgericht allerdings zutreffend eine Ausnahme von diesem Grundsatz angenommen. Denn dem Kläger ist die Ausreise in das Ausland hier unzumutbar, weil sie die Gefahr begründet, dass er seinen Arbeitsplatz im Bundesgebiet verliert.

Der Kläger ist seit April 2009 als Vorarbeiter bei Firma ... Baudienstleistungen in Nordhausen vollzeitbeschäftigt. Im hier maßgeblichen Kalenderjahr 2009 stand ihm ein Urlaubsanspruch von 15 Werktagen zu. Die Richtigkeit der Annahme des Verwaltungsgerichts, dem Kläger sei es auch unter Ausnutzung des gesamten Urlaubs nicht möglich, in den Kosovo zu reisen, dort den Pass zu beantragen, dessen Ausstellung abzuwarten, den Pass abzuholen, ein Visum für die Wiedereinreise zu beschaffen und schließlich in das Bundesgebiet zurückzukehren, ist nach dem Zulassungsvorbringen des Klägers keinen ernstlichen Zweifeln ausgesetzt. Nach der vom Kläger eingeholten Auskunft der Konsularabteilung der Botschaft der Republik Kosovo in Berlin vom 5. Januar 2010 nimmt die Beschaffung von Pässen im Kosovo circa 2 bis 3 Wochen in Anspruch, wenn wie hier die für die Erteilung erforderlichen Unterlagen (Geburtsurkunde, Staatsangehörigkeitsnachweis u.a.) noch beschafft werden müssen. Zuzüglich der für die Reise und die Beschaffung des Wiedereinreisevisums erforderlichen Zeit wäre es dem Kläger daher auch unter vollständiger Ausnutzung seines dreiwöchigen Jahresurlaubs 2009 nicht sicher möglich gewesen, den erforderlichen Pass im Kosovo zu beschaffen und rechtzeitig in das Bundesgebiet zurückzukehren. Nichts anderes ergibt sich letztlich aus dem Hinweis der Konsularabteilung der Botschaft der Republik Kosovo in Berlin vom 5. Januar 2010, die für die Passbeschaffung erforderlichen Unterlagen könnten vorab vom Bundesgebiet aus beschafft werden, so dass für die Beantragung und Abholung des Passes im Kosovo voraussichtlich nur noch eine Woche aufgewendet werden müsste. Denn selbst wenn dieser Hinweis zutreffen würde, wäre nicht sichergestellt, dass der Kläger innerhalb der verbleibenden Zeit ein Visum für die Wiedereinreise erlangen und auch tatsächlich wieder in das Bundesgebiet einreisen kann. Die bloße Vorabzustimmung des Beklagten hierzu bindet die nach Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl EG L 243 v. 15.9.2009, S. 1) für die Visumangelegenheiten zuständigen Behörden nicht und lässt folglich nicht den Schluss zu, dem Kläger werde ohne Weiteres ein Wiedereinreisevisum erteilt. Es kann daher dahinstehen, ob ein solches Visum, wie von der Deutschen Botschaft in Pristina gegenüber dem Beklagten am 5. Januar 2010 mitgeteilt worden ist, "in der Regel noch am gleichen Tage" erteilt wird. Bestand daher die Möglichkeit, dass der Kläger nicht innerhalb von drei Wochen in der Lage ist, den erforderlichen Pass im Kosovo zu beschaffen und rechtzeitig in das Bundesgebiet zurückzukehren, war die Reise in den Kosovo schon aus diesem Grund unzumutbar, da sie die hier nicht hinnehmbare Gefahr eines Arbeitsplatzverlustes begründet hätte.

Ob die Reise in den Kosovo darüber hinaus auch deshalb unzumutbar war, weil hierdurch der ununterbrochen geduldete Aufenthalt im Bundesgebiet beendet und damit eine wesentliche Anspruchsvoraussetzung des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG beseitigt worden wäre, bedarf daher hier keiner Entscheidung mehr. Gleiches gilt für die Frage, ob in diesen Fällen eine entsprechende Anwendung des § 85 AufenthG geboten ist (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 18.8.2009 - 8 PA 131/09 -; Umdruck S. 3; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 9.12.2009 - 13 S 2092/09 -, juris Rn. 25),

War damit zur Beschaffung eines kosovarischen Passes die Reise in den Kosovo erforderlich, diese dem Kläger aber nicht zumutbar, kommt es auf das Vorliegen anderer Bemühungen des Klägers um einen solchen Pass nicht mehr an. [...]

Die danach dem Kläger unzumutbare Beschaffung des nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG erforderlichen Passes reduziert das nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bestehende Ermessen und verpflichtet den Beklagten zum Absehen von dieser allgemeinen Erteilungsvoraussetzung. Dies gilt insbesondere im vorliegenden Fall, in dem die Identität des Klägers geklärt ist, hierzu die Vorlage eines gültigen Passes mithin nicht erforderlich und das öffentliche Interesse an der Passbeschaffung als eher gering zu gewichten ist, und der Kläger hier zunächst nur eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG begehrt. [...]