VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 09.11.2010 - 4 L 1455/10.DA.A(1) - asyl.net: M17796
https://www.asyl.net/rsdb/M17796
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Italien. Insbesondere bezüglich der humanitären Situation der in Italien schutzsuchenden Flüchtlinge bestehen berechtigte Zweifel daran, ob die Republik Italien noch die Gewähr dafür bietet, dass Ausländer, die dort einen Asyl- oder Schutzantrag gestellt haben, nicht individuell gefährdet sind.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Rechtsweggarantie, Konzept der normativen Vergewisserung
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, GG Art. 19 Abs. 4, VwGO § 123 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Zulässigkeit des Eilbegehrens steht die Rechtsvorschrift des § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Diese Vorschrift, die die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 oder § 123 VwGO für die Fälle ausschließt, in denen ein Ausländer unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, ist im Lichte der grundrechtlich geschützten Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) jedenfalls dann verfassungskonform und in Übereinstimmung mit den Bestimmungen zum vorläufigen Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 2 Satz 3 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin II-VO), dahingehend auszulegen, dass die Überprüfung des Abschiebungsvorhabens nach § 123 VwGO entgegen dem Wortlaut der Vorschrift des § 34a AsylVfG dann zulässig ist, wenn der Ausländer von einem der durch das sogenannte normative Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist (vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil v. 14. Mai 1996, BVerfGE 94, 49).

Unter Berücksichtigung des durch eidesstattliche Versicherung vom 14. Oktober 2010 bekräftigten Vorbringens des Antragstellers einerseits und die damit korrespondierenden allgemein bekannten Informationen zu der tatsächlichen Ausgestaltung des Asyl- und Flüchtlingsschutzes in Italien andererseits, insbesondere bezogen auf die humanitäre, vor allem wirtschaftliche, gesundheitliche und Wohnungssituation der in Italien schutzsuchenden Drittstaatsangehörigen bestehen bei dem Gericht berechtigte Zweifel daran, ob die Republik Italien noch die hinreichende Gewähr dafür bietet, dass Ausländer wie etwa der Antragsteller, die dort einen Asyl- oder Schutzantrag gestellt haben, nicht von individueller Gefährdung bedroht sind. Hier ist nach allem in Betracht zu ziehen, dass sich Italien seiner in völkerrechtlichen Verträgen wie der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 685) oder des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28, Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559) eingegangenen und bisher generell auch eingehaltenen Verpflichtungen gelöst hat und einem bestimmten Ausländer den Schutz dadurch verweigert, dass sich Italien seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen will oder nicht (mehr) willens oder in der Lage ist, ihm gegen über die vereinbarten europaweiten Mindeststandards zu gewährleisten. Im Hinblick darauf kann dem Antragsteller deshalb der begehrte vorläufige Rechtsschutz nicht von vornherein unter Hinweis auf die Rechtsvorschrift des § 34a Abs. 2 AsylVfG verwehrt werden, ohne dadurch seine Grund- und Menschenrechte zu verletzen. [...]

Der Antragsteller kann sich ferner auf den erforderlichen Anordnungsanspruch stützen. Das substantiierte und glaubhaft gemachte Vorbringen des Antragstellers, insbesondere seine Schilderungen über die von ihm erlebten Zustände im italienischen Asyl-/Schutzverfahren, die im allgemeinen von den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln gestützt werden, lassen starke Zweifel daran aufkommen, dass sein Asyl- oder Schutzbegehren in Italien nach dem genannten (s.o. Seite 3) normativen Vergewisserungskonzept in Übereinstimmung mit den einschlägigen europarechtlichen Konventionen bearbeitet und entschieden wird. Wenn die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 21.Oktober 2010 in diesem Zusammenhang lediglich ganz allgemein vorträgt, dass Italien gegenüber Ausländern diese Mindeststandards erfülle und für die Annahme eines Ausnahmefalls vom Konzept der normativen Vergewisserung hier keine hinreichenden Anhaltspunkte dargelegt worden seien, kann sich das Gericht dieser Sichtweise nicht anschließen. Richtig mag sein, dass Italien der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten beigetreten ist und im übrigen auch, wie die Antragsgegnerin weiter meint, alle EU-Richtlinien zum Flüchtlingsschutz in nationales Recht übernommen hat. Dennoch sprechen gewichtige Aspekte und Gegebenheiten dafür, dass - jedenfalls der Antragsteller - nicht mehr von dem normativen Vergewisserungskonzept erfasst wird. Nicht nur das von ihm detailreich geschilderte und glaubhaft gemachte eigene Schicksal als Flüchtling in Italien, sondern auch die zahlreichen Beschreibungen der dortigen Zustände, wie sie den in der Antragsschrift bezeichneten Publikationen und allgemein bekannten Mediendarstellungen, nicht zuletzt aber dem von der Antragsgegnerin bislang nicht widersprochenen Reisebericht des Rechtsanwaltes Bender, Frankfurt am Main, vom 26. Oktober 2010 zu entnehmen sind, belegen dies zu der für das Eilverfahren gebotenen Erkenntnis des Gerichts ausreichend und deutlich.

Im Hinblick darauf, dass hier insgesamt tatsächlich und rechtlich schwierige Fragen aufgeworfen sind, die in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht hinreichend beantwortet werden können, muss die umfassende Prüfung, ob dem Antragsteller letztlich Schutz vor der angeordneten Abschiebung nach Italien zu gewähren ist, dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. [...]