VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 14.09.2010 - 5 L 226/10 - asyl.net: M17814
https://www.asyl.net/rsdb/M17814
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz für polnische Kinder, deren Mutter mit einem Deutschen verheiratet ist und eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erhalten hat. Die Mutter ist nicht freizügigkeitsberechtigt, da sie nicht hinreichend - etwa durch die Vorlage von Bewerbungen bzw. einer Bescheinigung über den Abschluss eines Sprachkurses - glaubhaft gemacht hat, sich zur Arbeitssuche in Deutschland aufzuhalten. Es spricht aber vieles dafür, dass den Kindern eine Aufenthaltserlaubnis nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i. V. m. § 32 AufenthG zu erteilen ist. In Polen würde ihnen Obdachlosigkeit drohen, weshalb Überwiegendes für das Vorliegen einer besonderen Härte gemäß § 32 Abs. 4 AufenthG spricht, bei der das Kindeswohl und die familiäre Situation zu berücksichtigen sind.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Aufenthaltserlaubnis, freizügigkeitsberechtigt, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Kindernachzug, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, deutscher Ehegatte, Sicherung des Lebensunterhalts, Ermessen, atypischer Ausnahmefall, Polen, besondere Härte, Obdachlosigkeit, Kindeswohl, familiäre Beistandsgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 32, AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1, FreizügG/EU § 5 Abs. 5, FreizügG/EU § 2 Abs. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 6, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 1, FreizügG/EU § 11 Abs. 2, GG Art. 11 Abs. 1, AufenthG § 32 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Zwar dürften die Ausführungen des Antragsgegners in den angefochtenen Bescheiden zutreffen, wonach die Mutter der Antragstellerinnen kein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU genießt, da diese bislang ihre angeblich ernsthafte Absicht, eine Arbeit aufzunehmen, nicht hinreichend - etwa durch die Vorlage von Bewerbungen bzw. einer Bescheinigung über den erwähnten Sprachkurs - glaubhaft gemacht hat. Somit erscheint derzeit zweifelhaft, dass die Mutter der Antragstellerinnen sich zur Arbeitssuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU in Deutschland befindet. Allein die ausgestellte "Arbeitsgenehmigung EU" vom 19. März 2010 vermag die Eigenschaft als Arbeitssuchende nicht zu begründen. Die Antragstellerinnen selbst können sich auch nicht auf § 2 Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. §§ 3, 4 FreizügG/EU berufen, da jedenfalls ausreichende Existenzmittel der Antragstellerinnen nicht nachgewiesen sind. Denn offensichtlich lebt ihre Mutter mit ihrem deutschen Ehemann ausweislich des Bescheides der Arbeitsgemeinschaft xxx vom 17. Mai 2010 zurzeit von Sozialhilfeleistungen. Insoweit konnte der Antrag auf Eilrechtsschutz auch keinen Erfolg haben.

Die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 32 AufenthG, wodurch die Antragstellerinnen letztlich ausreisepflichtig werden (§ 50 Abs. 1 AufenthG), unterliegt jedoch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz - GG erheblichen Bedenken. Zwar ist die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllt. Der Lebensunterhalt der Antragstellerinnen ist nicht anders als durch öffentliche Leistungen gesichert. Allerdings spricht hier Überwiegendes dafür, von der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhaltes wegen des Vorliegens eines Ausnahmefalles abzusehen. Denn nachdem der Antragsgegner ausgehend von seiner Äußerung in dem Schriftsatz vom 03. August 2010 S. 2 der Mutter der Antragstellerinnen im Hinblick auf die Eheschließung mit deren deutschem Ehemann offensichtlich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt hat, würde die Entscheidung des Antragsgegners im Ergebnis zu einer Trennung der minderjährigen Antragstellerinnen von ihrer allein sorgeberechtigten Mutter führen. Zwar ergibt sich für Kinder von Ausländern regelmäßig aus Art. 6 Abs. 1 GG kein Anspruch auf Nachzug zu ihren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Eltern (BVerwGE 65, 188/193; BVerwG DÖV 1983, 204; Jarass, Grundgesetz, Kommentar, 10. Auflage 2009, Art. 6 Rdn. 34). Erfüllt jedoch die Familie die Voraussetzungen einer Beistandsgemeinschaft und kann dieser Beistand nur im Bundesgebiet unter zumutbaren Umständen geleistet werden, überwiegt der Familienschutz regelmäßig einwanderungspolitische Belange (BVerwGE 109, 305, 311). So kann grundsätzlich ein minderjähriger Ausländer, dessen Eltern oder dessen allein personensorgeberechtigter Elternteil sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, nicht ausgewiesen werden, es sei denn, er ist wegen serienmäßiger Begehung nicht unerheblicher, vorsätzlicher Straftaten oder einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden (Badura in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Kommentar Art. 6, S. 43, 44). Ausgehend davon spricht vieles dafür, dass den Antragstellerinnen - wenn sie schon nicht freizügigkeitsberechtigt sind - jedenfalls eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i. V. m. § 32 AufenthG zu erteilen ist. Zwar weist der Antragsgegner zutreffend darauf hin, dass für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich die allgemeinen Voraussetzungen des § 5 AufenthG vorliegen müssen. Es handelt sich dabei jedoch - wie oben angeführt - um Regeltatbestände, von denen Ausnahmen zulässig sind.

Ein Ausnahmefall liegt bei besonderen, atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen. Er besteht auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug geboten ist. Dies ist nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung der Fall, wenn die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist. So liegt es hier.

Den Antragstellerinnen dürfte die Herstellung der Familieneinheit mit ihrer Mutter und deren deutschen Ehemann nicht in Polen möglich sein. Einerseits steht dem das gesicherte Aufenthaltsrecht der Mutter der Antragstellerinnen entgegen; soweit der Stiefvater zugleich die polnische Staatsbürgerschaft besitzt und er die Familie nach Polen begleiten könnte, ist - zumindest - offen, ob dem Stiefvater der Antragstellerinnen auch deshalb nicht zugemutet werden kann, Deutschland zu verlassen und nach Polen auszureisen, weil einer solchen Obliegenheit sein verfassungsrechtlich geschütztes Recht (als Deutscher) auf Freizügigkeit entgegenstehen könnte (Art. 11 Abs. 1 GG). Wenn aber dem deutschen Stiefvater nicht zugemutet werden kann, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, kann der Mutter der Antragstellerinnen als dessen Ehefrau mit Blick auf Art. 6 GG auch nicht zugemutet werden, Deutschland zu verlassen. Andernfalls könnte sie die Familiengemeinschaft mit ihrem deutschen Ehemann nicht aufrecht erhalten. Wenn der Mutter eine Ausreise nicht zugemutet werden kann, können die Antragstellerinnen auch nicht mit ihr in Polen die Familiengemeinschaft aufrecht erhalten (vgl. hierzu die Konstellation in VG Münster, Beschluss vom 11. Februar 2009 - 8 K 1720/07 juris).

Des Weiteren weisen die Antragstellerinnen zu Recht darauf hin, dass ihnen bei Vollziehung der Entscheidung des Antragsgegners Obdachlosigkeit drohen würde, da ihre Mutter nach ihrer Eheschließung die Wohnung in Polen aufgegeben hat. Die Kammer hat keinen Anlass, an diesem nachvollziehbaren Vorbringen zu zweifeln. Im Hinblick auf die Antragstellerin zu 2), die bereits das 16. Lebensjahr vollendet hat, wäre zunächst § 32 Abs. 2 AufenthG einschlägig, wonach einem minderjährigen ledigen Kind, welches das 16. Lebensjahr vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn es die deutsche Sprache beherrscht oder gewährleistet erscheint, dass es sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann und beide Eltern bzw. der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Sofern jedoch diese Voraussetzungen etwa in Bezug auf die Beherrschung der deutschen Sprache nicht erfüllt sein sollten, spricht jedoch nach den vorstehenden Ausführungen Überwiegendes für das Vorliegen einer besonderen Härte gemäß § 32 Abs. 4 AufenthG, bei der nach Ermessen das Kindeswohl und die familiäre Situation zu berücksichtigen sind (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, 1/§ 32, Rdnr. 23). [...]