VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 17.09.2010 - 11 K 2968/10 - asyl.net: M17825
https://www.asyl.net/rsdb/M17825
Leitsatz:

1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung ist nur dann zulässig, wenn die begründete Besorgnis besteht, dass die vom Ausländer ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr sich schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren wird.

2. Wird einem Ausländer die Unterstützung der PKK vorgeworfen, so darf hinsichtlich der deshalb verfügten Ausweisung die sofortige Vollziehung nur angeordnet werden, wenn vom Betroffenen selbst unmittelbar eine Terrorgefahr droht, der Betroffene andere zu terroristischen Handlungen anstiftet, ihnen Hilfe leistet oder sie zumindest durch psychische Beihilfe in ihrem verbotenen Tun bestärkt.

3. Um feststellen zu können, ob die Anwesenheit eines Ausländers bei der PKK zugerechneten Veranstaltungen eine schädliche Unterstützungshandlung im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG ist, muss bekannt sein, was der Ausländer bei diesen Veranstaltungen konkret gemacht hat.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Sofortvollzug, vorläufiger Rechtsschutz, Verhältnismäßigkeit, PKK, terroristische Vereinigung, Unterstützung
Normen: AufenthG § 54a Abs. 1, AufenthG § 54a Abs. 2, AufenthG § 54 Nr. 5, AufenthG § 54 Nr. 5a, GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Der statthafte und auch ansonsten zulässige Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 19.07.2010 ist begründet. Nach Aktenlage fehlt das für die Anordnung des Sofortvollzugs notwendige besondere Vollzugsinteresse.

Die Ausweisung ist eine schwerwiegende Maßnahme, die tief in das Schicksal des Ausländers und seiner Angehörigen eingreift. Ihr Gewicht wird durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung erheblich verschärft. Deshalb ist die sofortige Vollziehung der Ausweisung eines Ausländers unter Beachtung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG nur ausnahmsweise zulässig und bedarf mit Rücksicht auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eines besonderen, über die Voraussetzungen für die Ausweisung selbst hinausgehenden öffentlichen Interesses; es muss die begründete Besorgnis bestehen, dass die von dem Ausländer ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr sich schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens über die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung realisieren wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.09.1995 - 2 BvR 1179/95 - NVwZ 1996, 58 und Beschluss vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - NVwZ 2007, 946; VGH Mannheim, Beschl. v. 13.03.1997 - 13 S 1132/96 - VBlBW 1997, 390). Der allgemeine Verdacht einer Beeinträchtigung erheblicher Belange der Bundesrepublik genügt nicht, um eine solche Anordnung zu rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.07.1973 - 1 BvR 23/73 - BVerfGE 35, 382; VGH München, Beschl. v. 25.10.2005 - 24 CS 05.1716 - NVwZ 2006, 227; Beschl. v. 11.02.2004 - 10 CS 03.3009 - InfAuslR 2004, 244 und Beschl. vom 19.02.2009 - 19 CS 08.1175 - juris -). Dabei ist zu berücksichtigen, dass es angesichts der schwerwiegenden Folgen der Ausweisung bereits im Eilverfahren hinreichend belastbarer Feststellungen bedarf und auf die Zuordnung von Fakten zu einzelnen Merkmalen der Befugnisnorm auch in einem summarischen Verfahren nicht verzichtet werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.06.2005 - 2 BvR 485/05 - NJW 2005, 3275; VGH München, Beschl. v. 25.10.2005 - 24 CS 05.1716 - a.a.O.; OVG Münster, Beschl. v. 15.05.2007 - 18 B 2067/06 - InfAuslR 2007, 349).

Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird die angefochtene Ausweisungsentscheidung und die im Bescheid vom 19.07.2010 enthaltene Begründung des Sofortvollzugs nicht gerecht. Die Begründung des Sofortvollzugs lässt hinreichende, auf Tatsachen gestützte Feststellungen des Inhalts vermissen, es bestehe die begründete Besorgnis, die vom Antragsteller ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich bereits vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren. Stattdessen wird lediglich behauptet, ohne Anordnung des Sofortvollzugs müssten Gefahren in Kauf genommen werden, die mit der Intention der erfüllten Ausweisungstatbestände und einer effektiven Gefahrenabwehr nicht in Einklang zu bringen wären. Nach seiner Persönlichkeit und den gesamten Umständen müsse damit gerechnet werden, dass der Antragsteller die PKK weiterhin massiv unterstütze, zumal er sich bislang nicht distanziert habe. Diese Ausführungen erschöpfen sich im Wesentlichen in einer bloßen Wiederholung des vom Bundesverfassungsgericht für die Anordnung des Sofortvollzugs aufgestellten Maßstabs und bleiben substanzlos. Es fehlt an einer Benennung der vom Antragsteller bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens konkret ausgehenden Gefahr (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 15.05.2007 - 18 B 2067/06 - a.a.O.). Weder legt der Antragsgegner dar, dass vom Antragsteller selbst unmittelbar eine Terrorgefahr droht, noch zeigt er auf, dass der Antragsteller andere zu terroristischen Handlungen anstiftet, ihnen Hilfe leistet oder sie zumindest durch psychische Beihilfe in ihrem verbotenen Tun bestärkt. Ebenso wenig lässt sich eine solche Gefahr mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit aus den sonstigen Umständen des Falles entnehmen. Eine aktuelle Gefährdung wird gerade nicht aufgezeigt (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 15.05.2007 - 18 B 2067/06 - a.a.O.). Soweit der Antragsgegner im Bescheid vom 19.07.2010 ausführt, es müsse damit gerechnet werden, dass der Antragsteller die PKK weiterhin massiv unterstütze, handelt es sich allein um bloße Vermutungen. Vermutungen können die sofortige Vollziehung einer Ausweisung jedoch nicht rechtfertigen. Sie wäre mit rechtstaatlichen Anforderungen nicht vereinbar und würde die Möglichkeit eröffnen, Ausländer ohne jeden Nachweis einer Tathandlung des Landes zu verweisen und damit vollendete Tatsachen zu schaffen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.06.2005 - 2 BvR 485/05 - a.a.O.; OVG Münster, Beschl. v. 15.05.2007 - 18 B 2067/06 - a.a.O.).

Der Antragsgegner hat die verfügte Ausweisung auch deshalb für sofort vollziehbar erklärt, um die Folgen des § 54 a Abs. 1 und 2 AufenthG eintreten zu lassen. Auch dies rechtfertigt indes nicht die Anordnung des Sofortvollzugs. Denn beim gegenwärtigen Erkenntnisstand ist völlig offen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 54 Nr. 5 und Nr. 5 a AufenthG vorliegen. § 54 Nr. 5 AufenthG setzt tatbestandlich eine Unterstützung einer Vereinigung, die ihrerseits den Terrorismus unterstützt, sowie eine gegenwärtige Gefährlichkeit des Antragstellers voraus. Der Antragsgegner hält dem Antragsteller im angefochtenen Bescheid sechs Unterstützungshandlungen seit dem Jahr 2006 vor. Insoweit wird im Bescheid vom 19.07.2010 jedoch lediglich ausgeführt, dass sich der Kläger an näher bezeichneten Tagen in bestimmten Räumlichkeiten aufgehalten habe und am selben Tage dort Veranstaltungen stattgefunden hätten, die der PKK bzw. PKK-Anhängern zugerechnet würden. Im angefochtenen Bescheid sind indes keinerlei Ausführungen enthalten, was der Antragsteller bei diesen vom Antragsgegner benannten Veranstaltungen konkret gemacht hat. Dementsprechend wurde der Antragsgegner im Hauptsacheverfahren zu einer Substantiierung seiner Vorhalte aufgefordert. Ob allein die Anwesenheit des Antragstellers bei den vom Antragsgegner bezeichneten Veranstaltungen als Unterstützungshandlung i.S.d. § 54 Nr. 5 AufenthG gewertet werden kann, ist derzeit völlig offen und eher fraglich. Zwar kann schon jede Handlung, die für die PKK objektiv vorteilhaft ist, als tatbestandsmäßiges Unterstützen angesehen werden. Das objektiv Vorteilhafte der Anwesenheit des Antragstellers bei den genannten Veranstaltungen wird im Bescheid indes nicht benannt. Im Übrigen muss die eine Unterstützung der PKK bezweckende Zielrichtung des Handelns für den Antragsteller erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.03.2005 - 1 C 26/03 - BVerwGE 123, 114). An einer subjektiv zurechenbaren Unterstützung fehlt es, wenn jemand allein einzelne politische, humanitäre oder sonstige Ziele der Organisation, nicht aber auch die Unterstützung der inkriminierten Ziele befürwortet und lediglich dies durch seine Teilnahme an erlaubten Veranstaltungen in Wahrnehmung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerungen nach außen vertritt (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.03.2005 - 1 C 26/03 - a.a.O.). Um feststellen zu können, ob die Anwesenheit des Antragstellers bei den genannten Veranstaltungen eine schädliche Unterstützungshandlung i.S.d. § 54 Nr. 5 AufenthG ist, muss zunächst geklärt werden, was der Antragsteller bei diesen Veranstaltungen konkret gemacht hat. Zudem ist der Sachverhalt noch dahingehend aufzuklären, ob der Antragsteller auch die Unterstützung der inkriminierten Ziele der PKK befürwortet und dies durch seine Teilnahme an den Veranstaltungen zum Ausdruck gebracht hat.

Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand erfüllt der Antragsteller nicht den Regelausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 a AufenthG. Der Antragsteller ist nicht persönlich als Gefahr für die Sicherheit des Staates anzusehen. Er hat weder an terroristischen Bestrebungen teilgenommen noch hat er strukturell wesentliche Funktionen innerhalb der PKK übernommen. Die bloße Zugehörigkeit zu einer Vereinigung, die ihrerseits wegen Gefährdung der inneren Sicherheit nach Art. 9 Abs. 2 GG oder § 14 Abs. 2 Vereinsgesetz verboten werden kann oder verboten ist, reicht für die Feststellung einer Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht aus. Vielmehr muss sich bei einer Betätigung für einen Verein der vereinsrechtliche Verbotsgrund nach polizeirechtlichen Grundsätzen in der Person des Ausländers konkretisiert haben (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.03.2005 - 1 C 26/03 - a.a.O.). [...]