EuGH

Merkliste
Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 09.11.2010 - B. u. D., C-57/09, C-101/09 [ASYLMAGAZIN 1-2/2011, S. 27 ff.] - asyl.net: M17841
https://www.asyl.net/rsdb/M17841
Leitsatz:

1. Kein automatischer Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung, wenn eine Person einer Organisation angehört, die wegen ihrer Beteiligung an terroristischen Handlungen in der sog. EU-Terrorliste aufgeführt ist (hier Dev Sol, PKK). Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine individuelle Verantwortung zurechenbar ist, wobei dem in Art. 12 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie (QRL) verlangten Beweisniveau Rechnung zu tragen ist.

2. Für den Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung nach Art. 12 Abs. 2 Bst. b oder c QRL ist eine gegenwärtige Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat nicht erforderlich.

3. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall setzt der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung nach Art. 12 Abs. 2 Bst. b oder c QRL nicht voraus.

4. Wenn eine Person nach Art. 12 Abs. 2 QRL von der Flüchtlingsanerkennung ausgeschlossen ist, kann dieser nach nationalem Recht ein Asylrecht zuerkannt werden, soweit diese andere Form des Schutzes nicht die Gefahr einer Verwechslung mit der Rechtsstellung des Flüchtlings im Sinne der QRL birgt.

Schlagwörter: Asylverfahren, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Ausschlussgrund, Vorabentscheidungsverfahren, Türkei, PKK, Widerruf, Widerrufsverfahren, schwere nichtpolitische Straftat, Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, schwerwiegende Gründe, gegenwärtige Gefahr, schutzwürdig, Verhältnismäßigkeit, Dev Sol, DHKP/C
Normen: EG Art. 68, EG Art. 234, RL 2004/83/EG Art. 12 Abs. 2 Bst. b, RL 2004/83/EG Art. 12 Abs. 2 Bst. c, RL 2004/83/EG Art. 3, EG Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 Bst. c, AEUV Art. 78 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 14 Abs. 4 Bst. a, RL 2004/83/EG Art. 21 Abs. 2, GFK Art. 33 Abs. 2, GFK Art. 1 F Bst. b, GFK Art. 1 F Bst. c
Auszüge:

[...]

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

76 Die Richtlinie wurde auf der Grundlage insbesondere des Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c EG erlassen, durch den der Rat beauftragt worden war, in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention und einschlägigen anderen Verträgen Asylmaßnahmen im Bereich der Mindestnormen für die Anerkennung von Staatsangehörigen dritter Länder als Flüchtlinge zu beschließen.

77 Aus den Erwägungsgründen 3, 16 und 17 der Richtlinie geht hervor, dass die Genfer Konvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt und dass die Bestimmungen der Richtlinie über die Voraussetzungen der Anerkennung als Flüchtling und über den Inhalt des Flüchtlingen zu gewährenden Schutzes erlassen wurden, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention auf der Grundlage gemeinsamer Konzepte und Kriterien zu leiten (Urteile Salahadin Abdulla u.a., Randnr. 52, und vom 17. Juni 2010, Bolbol, C-31/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 37).

78 Die Bestimmungen der Richtlinie sind daher im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention und einschlägigen anderen Verträgen, auf die Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 EG (jetzt Art. 78 Abs. 1 AEUV) Bezug nimmt, auszulegen. Diese Auslegung muss zudem, wie dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie zu entnehmen ist, die Achtung der Grundrechte und die Befolgung der insbesondere in der Charta der Grundrechte anerkannten Grundsätze gewährleisten (vgl. Urteile Salahadin Abdulla u.a., Randnrn. 53 und 54, sowie Bolbol, Randnr. 38).

Zur ersten Frage

79 Mit seiner ersten Frage in beiden Rechtssachen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine "schwere nichtpolitische Straftat" oder "Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen", im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie vorliegen, wenn die betreffende Person einer Organisation angehört hat, die wegen ihrer Beteiligung an terroristischen Handlungen in der Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgeführt ist, und den bewaffneten Kampf dieser Organisation, gegebenenfalls in hervorgehobener Position, aktiv unterstützt hat.

80 Zur Beantwortung dieser Frage, mit der geklärt werden soll, inwieweit die Zugehörigkeit einer Person zu einer in der genannten Liste aufgeführten Organisation unter Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie fallen kann, ist zunächst zu prüfen, ob die von einer solchen Organisation begangenen Handlungen, wie es das vorlegende Gericht voraussetzt, zu den Kategorien von schweren Straftaten und von Handlungen gehören können, auf die sich diese Buchst. b und c beziehen.

81 Es ist erstens festzustellen, dass terroristische Handlungen, die durch ihre Gewalt gegenüber Zivilbevölkerungen gekennzeichnet sind, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt werden, als schwere nichtpolitische Straftaten im Sinne des genannten Buchst. b angesehen werden müssen.

82 Was zweitens die in Art. 12 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie genannten Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, anbelangt, so wird im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie angegeben, dass sie in der Präambel und in den Art. 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen dargelegt und u. a. in den Resolutionen der Vereinten Nationen zu Antiterrormaßnahmen verankert sind.

83 Zu diesen Akten gehören die Resolutionen 1373 (2001) und 1377 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, denen zu entnehmen ist, dass dieser von dem Grundsatz ausgeht, dass Handlungen des internationalen Terrorismus in einer allgemeinen Weise und unabhängig von der Beteiligung eines Staates den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.

84 Daraus folgt, dass, wie alle Regierungen, die schriftliche Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, und die Europäische Kommission in ihren Erklärungen vertreten haben, die zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten die Bestimmung des Art. 12 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie auch auf eine Person anwenden können, die im Rahmen ihrer Zugehörigkeit zu einer in der Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgeführten Organisation an terroristischen Handlungen beteiligt war, die eine internationale Dimension aufweisen.

85 Sodann stellt sich die Frage, inwieweit eine Zugehörigkeit zu einer solchen Organisation impliziert, dass die betreffende Person unter Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie fällt, wenn sie, gegebenenfalls in hervorgehobener Position, den von dieser Organisation geführten bewaffneten Kampf aktiv unterstützt hat.

86 Insoweit ist hervorzuheben, dass Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie, wie im Übrigen auch Art. 1 Abschnitt F Buchst. b und c der Genfer Konvention, eine Person nur dann von der Flüchtlingsanerkennung auszuschließen erlaubt, wenn "schwerwiegende Gründe" zu der Annahme berechtigen, dass sie eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb ihres Aufnahmelandes "begangen hat", bevor sie als Flüchtling aufgenommen wurde, oder dass sie sich Handlungen "zuschulden kommen ließ", die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.

87 Dem Wortlaut dieser Richtlinienbestimmungen ist zu entnehmen, dass die zuständige Stelle des betreffenden Mitgliedstaats diese Bestimmungen erst anwenden darf, nachdem sie in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betreffenden, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt, unter einen der beiden Ausschlusstatbestände fallen.

88 Folglich kann erstens, auch wenn die Handlungen einer Organisation, die wegen ihrer Beteiligung an terroristischen Handlungen in der Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgeführt ist, unter einen der in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe fallen können, allein der Umstand, dass die betreffende Person einer solchen Organisation angehört hat, nicht automatisch zur Folge haben, dass sie nach diesen Bestimmungen von der Anerkennung als Flüchtling auszuschließen ist.

89 Es besteht nämlich kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 und der Richtlinie hinsichtlich der verfolgten Ziele, und es ist nicht gerechtfertigt, dass die zuständige Stelle, wenn sie den Ausschluss einer Person von der Flüchtlingsanerkennung nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie in Betracht zieht, sich nur auf deren Zugehörigkeit zu einer Organisation stützt, die in einer Liste aufgeführt ist, die außerhalb des Rahmens erlassen wurde, den die Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention geschaffen hat.

90 Indessen erlaubt die Aufnahme einer Organisation in eine Liste wie die im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 enthaltene die Feststellung, dass die Vereinigung, der die betreffende Person angehört hat, terroristischer Art ist, was einen Gesichtspunkt darstellt, den die zuständige Stelle zu berücksichtigen hat, wenn sie in einem ersten Schritt prüft, ob die Vereinigung Handlungen begangen hat, die unter Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie fallen.

91 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Umstände, unter denen die beiden Organisationen, denen die Revisionsbeklagten der Ausgangsverfahren jeweils angehört haben, in die genannte Liste aufgenommen wurden, nicht mit einer individuellen Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände vergleichbar sind, die jeder Entscheidung, eine Person gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie von der Anerkennung als Flüchtling auszuschließen, vorausgehen muss.

92 Zweitens fällt, anders als die Kommission geltend gemacht hat, auch die Beteiligung an den Handlungen einer terroristischen Vereinigung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/475 nicht notwendig und automatisch unter die in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe.

93 Der Rahmenbeschluss 2002/475 wurde nämlich nicht nur, ebenso wie der Gemeinsame Standpunkt 2001/931, in einem anderen Kontext erlassen als dem der Richtlinie, der im Wesentlichen humanitärer Art ist, sondern die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieses Rahmenbeschlusses definierte vorsätzliche Handlung der Beteiligung an den Handlungen einer terroristischen Vereinigung, die die Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht unter Strafe zu stellen hatten, ist auch nicht geeignet, die automatische Anwendung der in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie genannten Ausschlussgründe auszulösen, die eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände jedes Einzelfalls voraussetzen.

94 Aus allen diesen Erwägungen ergibt sich, dass der Ausschluss einer Person, die einer sich terroristischer Methoden bedienenden Organisation angehört hat, von der Flüchtlingsanerkennung eine individuelle Prüfung der genauen tatsächlichen Umstände voraussetzt, die es erlaubt, zu beurteilen, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass diese Person im Rahmen ihrer Handlungen innerhalb dieser Organisation eine schwere nichtpolitische Straftat begangen hat oder sich Handlungen hat zuschulden kommen lassen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, oder im Sinne des Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie andere zu solchen Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt hat.

95 Für die Feststellung, dass die in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe vorliegen, ist es erforderlich, dass der betreffenden Person ein Teil der Verantwortung für Handlungen, die von der fraglichen Organisation im Zeitraum der Mitgliedschaft der Person in dieser Organisation begangen wurden, zugerechnet werden kann, wobei dem in diesem Abs. 2 verlangten Beweisniveau Rechnung zu tragen ist.

96 Diese individuelle Verantwortung ist anhand sowohl objektiver als auch subjektiver Kriterien zu beurteilen.

97 Hierfür hat die zuständige Stelle insbesondere die Rolle zu prüfen, die die betreffende Person bei der Verwirklichung der fraglichen Handlungen tatsächlich gespielt hat, ihre Position innerhalb dieser Organisation, den Grad der Kenntnis, die sie von deren Handlungen hatte oder haben musste, die etwaigen Pressionen, denen sie ausgesetzt gewesen wäre, oder andere Faktoren, die geeignet waren, ihr Verhalten zu beeinflussen.

98 Eine staatliche Stelle, die bei dieser Prüfung feststellt, dass die betreffende Person, wie D, eine hervorgehobene Position in einer sich terroristischer Methoden bedienenden Organisation innehatte, kann vermuten, dass diese Person eine individuelle Verantwortung für von dieser Organisation im relevanten Zeitraum begangene Handlungen trägt, jedoch bleibt nichtsdestoweniger die Prüfung sämtlicher erheblicher Umstände erforderlich, bevor die Entscheidung erlassen werden kann, die betreffende Person gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie von der Anerkennung als Flüchtling auszuschließen.

99 In Anbetracht der Gesamtheit der vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage in beiden Rechtssachen zu antworten, dass Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie dahin auszulegen ist,

– dass der Umstand, dass eine Person einer Organisation angehört hat, die wegen ihrer Beteiligung an terroristischen Handlungen in der Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgeführt ist, und den von dieser Organisation geführten bewaffneten Kampf aktiv unterstützt hat, nicht automatisch einen schwerwiegenden Grund darstellt, der zu der Annahme berechtigt, dass diese Person eine "schwere nichtpolitische Straftat" oder "Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen", begangen hat;

– dass in einem solchen Kontext die Feststellung, dass schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass eine Person eine solche Straftat begangen hat oder sich solche Handlungen hat zuschulden kommen lassen, eine Beurteilung der genauen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls voraussetzt, um zu ermitteln, ob von der betreffenden Organisation begangene Handlungen die in den genannten Bestimmungen festgelegten Voraussetzungen erfüllen und ob der betreffenden Person eine individuelle Verantwortung für die Verwirklichung dieser Handlungen zugerechnet werden kann, wobei dem in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie verlangten Beweisniveau Rechnung zu tragen ist.

Zur zweiten Frage

100 Mit seiner zweiten Frage in beiden Rechtssachen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie voraussetzt, dass von der betreffenden Person weiterhin eine Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat ausgeht.

101 Es ist sogleich darauf hinzuweisen, dass in der Systematik der Richtlinie eine möglicherweise von einem Flüchtling für den betreffenden Mitgliedstaat ausgehende gegenwärtige Gefahr nicht im Rahmen des Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie Berücksichtigung findet, sondern im Rahmen zum einen ihres Art. 14 Abs. 4 Buchst. a, wonach dieser Mitgliedstaat die einem Flüchtling zuerkannte Rechtsstellung insbesondere dann aberkennen kann, wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass dieser eine Gefahr für die Sicherheit darstellt, und zum anderen ihres Art. 21 Abs. 2, nach dem der Aufnahmemitgliedstaat, wozu ihn auch Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention ermächtigt, einen Flüchtling zurückweisen kann, wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass dieser eine Gefahr für die Sicherheit oder die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt.

102 Nach dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie, der dem des Art. 1 Abschnitt F Buchst. b und c der Genfer Konvention entspricht, ist ein Drittstaatsangehöriger von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er außerhalb des Aufnahmelandes, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, eine schwere nichtpolitische Straftat "begangen hat" oder dass er sich Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, "zuschulden kommen ließ".

103 Mit diesen beiden Ausschlussgründen sollen nach dem Wortlaut der sie festlegenden Bestimmungen, wie von allen Regierungen, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, und von der Kommission vorgetragen worden ist, Handlungen geahndet werden, die in der Vergangenheit begangen wurden.

104 Insoweit ist hervorzuheben, dass die in Frage stehenden Ausschlussgründe mit dem Ziel geschaffen wurden, von der Flüchtlingsanerkennung Personen auszuschließen, die als des sich aus ihr ergebenden Schutzes unwürdig angesehen werden, und zu verhindern, dass diese Anerkennung den Urhebern bestimmter schwerwiegender Straftaten ermöglicht, sich einer strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen. Es entspräche daher nicht dieser doppelten Zielsetzung, den Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung vom Bestehen einer gegenwärtigen Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat abhängig zu machen.

105 Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie nicht voraussetzt, dass von der betreffenden Person eine gegenwärtige Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat ausgeht.

Zur dritten Frage

106 Mit seiner dritten Frage in beiden Rechtssachen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie eine auf den Einzelfall bezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetzt.

107 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 2, sofern die dort festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind, die betreffende Person von der Anerkennung als Flüchtling "ausgeschlossen [ist]" und dass im System der Richtlinie Art. 2 Buchst. c die Eigenschaft als "Flüchtling" ausdrücklich davon abhängig macht, dass Art. 12 auf den Betreffenden keine Anwendung findet.

108 Der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung aus einem der in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c genannten Gründe hängt, wie im Rahmen der Antwort auf die erste Frage ausgeführt worden ist, mit der Schwere der begangenen Handlungen zusammen, die von einem solchen Grad sein muss, dass die betreffende Person nicht in berechtigter Weise Anspruch auf den Schutz erheben kann, der mit der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie verbunden ist.

109 Da die zuständige Behörde bereits im Rahmen ihrer Beurteilung der Schwere der begangenen Handlungen und der individuellen Verantwortung der betreffenden Person alle Umstände berücksichtigt hat, die für diese Handlungen und für die Lage dieser Person kennzeichnend sind, kann sie, wenn sie zu dem Ergebnis gelangt, dass Art. 12 Abs. 2 Anwendung findet, nicht, wie die deutsche, die französische und die niederländische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs geltend gemacht haben, zur Vornahme einer Verhältnismäßigkeitsprüfung verpflichtet sein, die eine erneute Beurteilung des Schweregrads der begangenen Handlungen einschließt.

110 Es ist zu betonen, dass der Ausschluss einer Person von der Flüchtlingsanerkennung gemäß Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie keine Stellungnahme zu der gesonderten Frage impliziert, ob diese Person in ihr Herkunftsland ausgewiesen werden darf.

111 Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, dass der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie keine auf den Einzelfall bezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetzt.

Zur vierten Frage

112 Angesichts der Antwort auf die dritte Frage ist die vierte Frage, die das vorlegende Gericht in beiden Rechtssachen gestellt hat, nicht zu beantworten.

Zur fünften Frage

113 Mit seiner fünften Frage in beiden Rechtssachen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es mit der Richtlinie im Sinne ihres Art. 3 vereinbar ist, dass ein Mitgliedstaat nach seinem Verfassungsrecht einer Person, die gemäß Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, ein Asylrecht zuerkennt.

114 Insoweit ist zu beachten, dass es Art. 3 der Richtlinie den Mitgliedstaaten gestattet, günstigere Normen u. a. zur Entscheidung der Frage zu erlassen oder beizubehalten, wer als Flüchtling gilt, sofern jedoch diese Normen mit der Richtlinie vereinbar sind.

115 In Anbetracht des den Ausschlussgründen der Richtlinie zugrunde liegenden Zwecks, der darin liegt, die Glaubwürdigkeit des durch die Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention vorgesehenen Schutzsystems zu erhalten, läuft es aber dem in Art. 3 der Richtlinie niedergelegten Vorbehalt zuwider, dass ein Mitgliedstaat Bestimmungen erlässt oder beibehält, die die Rechtsstellung des Flüchtlings einer Person gewähren, die hiervon nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie ausgeschlossen ist.

116 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es, wie dem letzten Satzteil des Art. 2 Buchst. g der Richtlinie zu entnehmen ist, der Richtlinie nicht zuwiderläuft, dass eine Person um eine "andere … Form des Schutzes" außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie ersucht.

117 Die Richtlinie geht ebenso wie die Genfer Konvention von dem Grundsatz aus, dass die Mitgliedstaaten nach ihrem nationalen Recht einen nationalen Schutz gewähren können, der mit Rechten verbunden ist, die Personen, die gemäß Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie von der Flüchtlingsanerkennung ausgeschlossen sind, den Aufenthalt im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats gestatten.

118 Die Gewährung einer solchen, nationalen Schutz beinhaltenden Rechtsstellung aus anderen Gründen als dem, dass internationaler Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie gewährt werden muss, d.h. aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, fällt, wie im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie klargestellt wird, nicht in deren Anwendungsbereich.

119 Diese andere Form des Schutzes, zu deren Gewährung die Mitgliedstaaten befugt sind, darf indessen nicht, wie besonders die Kommission zu Recht hervorgehoben hat, mit der Rechtsstellung des Flüchtlings im Sinne der Richtlinie verwechselbar sein.

120 Soweit die nationalen Rechtsvorschriften, die von der Flüchtlingsanerkennung im Sinne der Richtlinie ausgeschlossenen Personen ein Asylrecht gewähren, eine klare Unterscheidung des nationalen Schutzes von dem Schutz gemäß der Richtlinie erlauben, beeinträchtigen sie daher das von der Richtlinie geschaffene System nicht.

121 Demnach ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 3 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten nach ihrem nationalen Recht einer Person, die gemäß Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, ein Asylrecht zuerkennen können, soweit diese andere Form des Schutzes nicht die Gefahr der Verwechslung mit der Rechtsstellung des Flüchtlings im Sinne der Richtlinie birgt. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen,

– dass der Umstand, dass eine Person einer Organisation angehört hat, die wegen ihrer Beteiligung an terroristischen Handlungen in der Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus aufgeführt ist, und den von dieser Organisation geführten bewaffneten Kampf aktiv unterstützt hat, nicht automatisch einen schwerwiegenden Grund darstellt, der zu der Annahme berechtigt, dass diese Person eine "schwere nichtpolitische Straftat" oder "Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen", begangen hat;

– dass in einem solchen Kontext die Feststellung, dass schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass eine Person eine solche Straftat begangen hat oder sich solche Handlungen hat zuschulden kommen lassen, eine Beurteilung der genauen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls voraussetzt, um zu ermitteln, ob von der betreffenden Organisation begangene Handlungen die in den genannten Bestimmungen festgelegten Voraussetzungen erfüllen und ob der betreffenden Person eine individuelle Verantwortung für die Verwirklichung dieser Handlungen zugerechnet werden kann, wobei dem in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie verlangten Beweisniveau Rechnung zu tragen ist.

2. Der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie 2004/83 setzt nicht voraus, dass von der betreffenden Person eine gegenwärtige Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat ausgeht.

3. Der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie 2004/83 setzt keine auf den Einzelfall bezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung voraus.

4. Art. 3 der Richtlinie 2004/83 ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten nach ihrem nationalen Recht einer Person, die gemäß Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, ein Asylrecht zuerkennen können, soweit diese andere Form des Schutzes nicht die Gefahr der Verwechslung mit der Rechtsstellung des Flüchtlings im Sinne der Richtlinie birgt.