VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 10.09.2010 - 10 L 724/10 - asyl.net: M17851
https://www.asyl.net/rsdb/M17851
Leitsatz:

Ein zwingendes Abschiebungshindernis gemäß Art. 8 EMRK setzt auch im Falle eines im Bundesgebiet aufgewachsenen Ausländers dessen abgeschlossene "gelungene" Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse voraus.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Abschiebungshindernis, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, rechtliche Unmöglichkeit, Achtung des Privatlebens, Verwurzelung, Verhältnismäßigkeit, Straftat, Duldung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, VwGO § 60, EMRK Art. 8, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Davon ausgehend steht der Abschiebung des Antragstellers insbesondere nicht Art. 8 Abs. 1 EMRK entgegen. Zwar greift die Abschiebung des im Alter von 1 ½ Jahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereisten und hier aufgewachsenen Antragstellers in sein durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Familien- und Privatleben ein. Dieser Eingriff ist jedoch im Verständnis von Art. 8 Abs. 2 EMRK verhältnismäßig.

Dies gilt zunächst im Hinblick auf das von dem Antragsteller in den Vordergrund gestellte, in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens. Dieses Recht umfasst, auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen – angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen – bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. dazu BVerfG, Beschlüsse vom 10.05.2007, 2 BvR 304/07, InfAuslR 2007, 275, und vom 10.08.2007, 2 BvR 535/06, InfAuslR 2007, 443; ferner BVerwG, Urteil vom 27.01.2009, 1 C 40.07, BVerwGE 133, 73).

Ein Eingriff in dieses Recht durch eine Aufenthaltsbeendigung muss sich an der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK messen lassen. Der Eingriff ist dabei nur dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig i. S. v. Art. 8 Abs. 2 EMRK, wenn er verhältnismäßig ist. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist das Interesse des hier aufgewachsenen Ausländers an der Aufrechterhaltung der entstandenen Bindungen mit den gegenläufigen öffentlichen Interessen abzuwägen, insbesondere dem Interesse an der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern sowie dem Interesse, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Dabei sind das Ausmaß der Verwurzelung bzw. die für den Ausländer mit einer "Entwurzelung" verbundenen Folgen entsprechend ihrer Gewichtung zu berücksichtigen und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 27.01.2009, 1 C 40.07, a. a. O., und Beschluss vom 19.01.2010, 1 B 25.09, NVwZ 2010, 707).

Eine im Ergebnis im Rahmen einer Abwägung gegenüber dem staatlichen Interesse einer Aufenthaltsbeendigung durchsetzungsfähige Rechtsposition selbst eines im Bundesgebiet geborenen und allein hier aufgewachsenen Ausländers auf dieser Grundlage kommt nach ständiger Rechtsprechung der saarländischen Verwaltungsgerichte (vgl. etwa OVG des Saarlandes, u.a. Beschlüsse vom 11.06.2010, 2 B 124/10, und vom 10.05.2010, 2 A 51/10, m.w.N.; ferner die Beschlüsse der Kammer vom 03.04.2009, 10 L 188/09, und vom 28.07.2009, 10 L 638/09) allerdings nur in Betracht, wenn von seiner abgeschlossenen "gelungenen" Integration in die Lebensverhältnisse in Deutschland, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Grundvoraussetzung für die Annahme eines rechtlichen Abschiebungshindernisses auf der Grundlage des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist, ausgegangen werden kann. Nicht ausreichend ist es, dass sich der Ausländer eine bestimmte, auch längere Zeit im Aufnahmeland aufgehalten hat. Eine Aufenthaltsbeendigung kann vielmehr nur dann einen konventionswidrigen Eingriff in das "Privatleben" im Verständnis des Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen, wenn der Ausländer aufgrund seines (längeren) Aufenthalts über so starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum Aufnahmestaat verfügt, dass er aufgrund der Gesamtentwicklung "faktisch" zu einem Inländer geworden ist, dem wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann. [...]