VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 14.09.2010 - A 5 K 568/10 - asyl.net: M17856
https://www.asyl.net/rsdb/M17856
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG (dialysepflichtige Niereninsuffizienz) hinsichtlich Kosovo. Der Gesundheitszustand der Klägerin würde sich im Falle einer auch nur kurzfristigen Unterbrechung der Behandlung, etwaiger Komplikationen oder einer nur eingeschränkt gewährleisteten Behandlung kurzfristig lebensbedrohlich verschlechtern. Die Frage der - zu bezweifelnden - Finanzierbarkeit der ärztlichen Behandlung und notwendigen Medikation stellt sich daher vorliegend nicht.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Kosovo, Krankheit, Nierenerkrankung, Wiederaufnahme des Verfahrens, Dialyse, Suizidgefahr, Depression, medizinische Versorgung, Niereninsuffizienz, Medikamente
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Bei eingehender Auswertung der von der Klägerin vorgelegten zahlreichen Arztberichte, Atteste und Gutachten aus dem vergangenen Jahr (insbesondere ausführliche amtsärztliche Stellungnahme des Landkreises Esslingen, basierend auf einer Untersuchung vom 18.05.2010), bestätigt durch die Anhörung und insbesondere den persönlichen Eindruck der Klägerin im Termin der mündlichen Verhandlung, ist davon auszugehen, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin bei einer Rückkehr in den Kosovo zumindest beim Auftreten auch nur geringfügiger Komplikationen in der medikamentösen und sonstigen ärztlichen Versorgung der Klägerin alsbald nach der Rückkehr wesentlich und sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Die begutachtende Ärztin des Gesundheitsamtes des Landkreises Esslingen, welches als in jeder Hinsicht unabhängige Stelle zu betrachten ist, führt ausdrücklich aus: "Frau ... benötigt regelmäßige fachärztliche Betreuung und Behandlung. Dies bedeutet dreimal wöchentlich Dialyse in einer hierfür geeigneten Einrichtung. Darüber hinaus muss die Bereitstellung der Medikamente gewährleistet sein ... Ohne diese Behandlung droht eine lebensbedrohliche Gesundheitsverschlechterung. Frau ... ist nach dem Ergebnis der amtsärztlichen Untersuchung am Tag nach der Dialyse reisefähig im Sinne von transportfähig in Begleitung von Angehörigen. Die Dialyse am Folgetag muss gewährleistet sein. Ein Dialyseplatz muss sicher zur Verfügung stehen, da ansonsten mit einer lebensbedrohlichen Situation gerechnet werden muss. Die Reiseflugtauglichkeit ist in Begleitung von Angehörigen gegeben. Mit einer depressiven Krise ist zu rechnen. Eine Suizidalität ist nicht auszuschließen."

Zwar geht das Gericht im Hinblick auf die verschiedenen in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zur Lage und gesundheitlichen Versorgung im Kosovo ebenso wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und das Verwaltungsgericht Bremen in seinem zitierten Urteil vom 22.10.2009, Az.: 5 K 271/07.A davon aus, dass im Regelfall eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz kein Abschiebungsverbot im Hinblick auf den Kosovo begründet. Die Dialyse ist im Kosovo möglich, es gibt in mehreren Städten Dialysezentren und mehrere Dialysezentren sollen in absehbarer Zeit auf die regionale Ebene verlagert werden, um die bauliche Struktur und die Erreichbarkeit für die Patienten zu verbessern. Anderseits wird aber auch in den einschlägigen Erkenntnisquellen darauf hingewiesen, dass Begleitmedikamente, z. B. gegen Herzerkrankungen, Anämie und Ähnliches wegen der knappen Haushaltslage im öffentlichen Gesundheitssystem nicht zur Verfügung gestellt werden können. Der dem Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen vom 22.10.2009 zugrunde liegende Sachverhalt ist mit dem Fall der Klägerin in keiner Hinsicht zu vergleichen. Bei dem Kläger in diesem Verfahren handelte es sich um einen 35 Jahre alten Mann, bei welchem abgesehen von seiner Erkrankung keinerlei ernsthafte Behinderungen im Alltagsleben zu erkennen sind. Die Klägerin im vorliegenden Verfahren ist jedoch nicht nur nach ihrem eigenen in jeder Hinsicht glaubhaften Vortrag, sondern auch nach dem vom Gericht in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck auch im Alltagsleben nahezu vollständig hilflos. [...] Hier wurde die besondere Schwere der Erkrankung der Klägerin und insbesondere die fortschreitende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes bis hin zur Lebensgefahr von in jeder Hinsicht "unparteiischen" und objektiven Institutionen bzw. den untersuchenden Ärzten bestätigt. In der aktuellen amtsärztlichen Stellungnahme wird mehrfach ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der kleinsten Komplikation wie einer kurzfristigen Unterbrechung der Dialysebehandlung oder dem Absetzen eines der benötigten Medikamente ernsthafte und konkrete Lebensgefahr besteht, ganz abgesehen von den zunehmend schweren Depressionen der Klägerin, welche sich nach der Stellungnahme der Amtsärztin ebenfalls auf Dauer fatal auswirken könnten. Nach den Ausführungen in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen geht aus keiner der vom Kläger vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und Atteste konkret hervor, dass abgesehen von der Dialysepflichtigkeit - die erfolgende Zusatzmedikation zwingend erforderlich ist, um eine ernsthafte Gesundheitsgefährdung bzw. sogar Lebensgefahr zu verhindern.

[...]

Die zahlreichen fachärztlichen Aussagen nicht nur im Rahmen der amtsärztlichen Untersuchungen, sondern auch unterschiedlicher Ärzte nephrologischer Arztpraxen sowohl in Greiz, wo sich die Klägerin zeitweilig aufhielt, als auch in Esslingen belegen ebenso wie der persönlich gewonnene Eindruck von der Klägerin zur Überzeugung des Gerichts, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin im Falle eines auch nur kurzfristigen Behandlungsabbruchs, etwaiger Komplikationen oder einer nur eingeschränkt gewährleisteten Behandlung kurzfristig lebensbedrohlich verschlechtern würde. Zudem steht ernsthaft zu befürchten, dass die entstehende Stresssituation einer Rückführung in den Kosovo bei der gegebenen physischen und psychischen Situation der Klägerin vollkommen unabhängig von einer gegebenen oder nicht gegebenen ärztlichen Behandlungsmöglichkeit bereits zu einer derartigen gesundheitlichen Krise führen würden, dass es ihr überhaupt nicht mehr möglich sein dürfte, sich im normalen Alltagsleben zurechtzufinden, geschweige denn jemals zu versuchen, eine Arbeit aufzunehmen. Es wäre ernsthaft mit einem völligen Erlöschen ihres Lebenswillens zu rechnen, bei einem Wegfall der derzeit gegebenen - wenn auch nur relativen - Sicherheit und der Unterstützung durch ihre in Deutschland lebenden erwachsenen Familienmitglieder wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur ein sehr zügig fortschreitender weiterer körperlicher Verfall, sondern auch ein weiterer Persönlichkeitsverlust bis hin zum "vollständigen psychischen Tod" der bereits jetzt schwer erkrankten Klägerin zu rechnen. Eine menschenwürdige Existenz dürfte der Klägerin bei einer Rückkehr in ihrer derzeitigen Verfassung in den Kosovo kaum mehr möglich sein.

Von einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann zwar dann nicht gesprochen werden, wenn "lediglich" eine Heilung eines gegebenen Krankheitszustandes des Ausländers im Abschiebungszielland nicht zu erwarten ist oder vorübergehende Verschlechterungen durch Anpassungsprobleme erfolgen. Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll dem Ausländer nicht eine Heilung von Krankheit unter Einsatz es sozialen Netzes der Bundesrepublik Deutschland sichern, sondern ihn vor zu erwartender fortdauernder gravierender Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter Leib und Leben bewahren. Dies steht im Fall der Klägerin auch bei einer grundsätzlich gegebenen guten Grundversorgung von Nierenerkrankungen im Kosovo beim Auftreten kleinster Komplikationen - wie oben bereits ausgeführt - ernsthaft zu befürchten. Die Frage der - zu bezweifelnden - Finanzierbarkeit der ärztlichen Behandlung und notwendigen Medikation stellt sich daher vorliegend nicht. Damit droht der Klägerin wegen des Gesamtbildes ihrer schweren Erkrankungen zumindest im momentanen Krankheits- und Behandlungsstadium im Heimatland eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, weshalb der Klage stattzugeben war. [...]