VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 10.11.2010 - 3 A 2653/09 - asyl.net: M17858
https://www.asyl.net/rsdb/M17858
Leitsatz:

Allein aufgrund der Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) im Mai 2010 ist für den Asylfolgeantrag keine veränderte Sachlage dahingehend anzunehmen, dass die bereits seit 1992 ratifizierte UN-KRK eine weitergehende Anspruchsgrundlage für minderjährige Asylantragsteller bilden könnte. Weder im Wortlaut noch in der Vorbehaltserklärung findet sich ein Bezug zu den rechtlichen Vorgaben der Prüfung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes. Ein niederschwelligerer Maßstab ist für minderjährige Flüchtlinge bei der Prüfung der extremen Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nach Art. 3 UN-KRK daher nicht anzusetzen.

Schlagwörter: Asylverfahren, Asylfolgeantrag, Wiederaufnahme des Verfahrens, Frist, Irak, Yeziden, Kindeswohl, Kinderrechtskonvention, Gruppenverfolgung, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, extreme Gefahrenlage, Krankheit, minderjährig
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, UN-KRK Art. 3, GR-Charta Art. 24 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Auch die Inhalte der UN-Kinderrechtskonvention können nicht zu einer Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen.

Das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes - UN-Kinderrechtskonvention - wurde am 20. November 1989 von der UN-Vollversammlung beschlossen. In Deutschland trat diese Vereinbarung durch Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde am 5. April 1992 in Kraft (vgl. BGBl. II 1992 S. 121 sowie die Bekanntmachung vom 10. Juli 1992 - BGBl. II 1992 S. 990). Die Leitmaxime des Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention lautet, dass die Vertragsstaaten sich verpflichten, das Wohl des Kindes bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, vorrangig zu berücksichtigen und ihnen Schutz und Fürsorge, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind, zu gewährleisten. Zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen und stellen sicher, dass alle für den Schutz von Kindern verantwortlichen Institutionen den von den zuständigen Behörden festgelegten Normen entsprechen. Die UN-Kinderrechtskonvention betrifft auch den Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen (vgl. etwa Artikel 22). Im Rahmen der Ratifizierung war von deutscher Seite eine Vorbehaltserklärung abgegeben worden, die folgenden Wortlaut hatte: "Nichts in dem Übereinkommen kann dahin ausgelegt werden, dass die widerrechtliche Einreise eines Ausländers in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder dessen widerrechtlicher Aufenthalt dort erlaubt ist; auch kann keine Bestimmung dahin ausgelegt werden, dass sie das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränkt, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und die Bedingungen ihres Aufenthalts zu erlassen." Dieser Vorbehalt wurde von der Bundesregierung im Mai 2010 aufgehoben. Innerhalb der Bundesregierung besteht Konsens, dass die Vorbehaltserklärung eine deklaratorische Bedeutung gehabt habe und ihre Rücknahme demgemäß keine unmittelbaren Rechtsfolgen auslöse (vgl. insofern die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister des Innern, Dr. Ole Schröder, in der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 1. Juli 2010 auf die Mündliche Frage Nr. 43 der Abgeordneten Daniela Kolbe, Plenarprotokoll 17/51, Anlage 30, Frage 43, S. 5427). Im Übrigen sei die UN-Kinderrechtskonvention kein unmittelbar anwendbares Recht, sondern werde durch innerstaatliches Recht ausgefüllt und in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Gesetzgebung generell und nicht allein im Hinblick auf asyl- und aufenthaltsrechtliche Regelungen beachtet. So finde etwa das Kindeswohl gem. Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention bereits in allen Gesetzgebungsverfahren Berücksichtigung und sei nicht auf asyl- und aufenthaltsrechtliche Vorschriften begrenzt. Darüber hinaus würden die Rechte von Kindern in Deutschland durch weitere völkerrechtliche Verpflichtungen gesichert, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention sowie dem Haager Minderjährigenschutzabkommen ergäben. Daraus folgt nach Auffassung der Bundesregierung, dass eine Änderung der geltenden Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes mit der Rücknahme der Vorbehaltserklärung nicht verbunden sei, da sich die geltende Rechtslage des Aufenthaltsrechts bereits jetzt in Übereinstimmung mit den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention befinde (vgl. Presseinformation der Sitzung des Niedersächsischen Landtages vom 19. August 2010, Mdl. Anfrage Nr. 43).

Auch das Gericht hat keine Veranlassung, allein aufgrund der Rücknahme der Vorbehaltserklärung eine veränderte Sachlage dahingehend anzunehmen, dass die bereits seit 1992 ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention eine weitergehende Anspruchsgrundlage für minderjährige Asylantragsteller bilden könnte. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers ist zwar der Auffassung, dass bei der Prüfung der extremen Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch die Berücksichtigung von Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention ein niederschwelligerer Maßstab angesetzt werden müsse. Allerdings findet sich weder im Wortlaut der Konvention noch in der Vorbehaltserklärung ein Bezug zu den rechtlichen Vorgaben der Prüfung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes, so dass auch nicht aufgrund der nunmehr vorbehaltlos anerkannten Konvention Maßstäbe entwickelt werden können, die so weder in der Kinderrechtskonvention als solcher noch in den nationalen gesetzlichen Vorschriften vorgesehen sind. Letztlich kann aber offen bleiben, ob die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zu einer unmittelbaren Rechtsbindung der Kinderrechtskonvention für die Rechtsanwender führt. Denn die Bestimmungen statuieren ebenso wie Art. 24 Abs. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta keinen absoluten Vorrang des Kindeswohls; das Wohlergehen des Kindes muss lediglich vorrangig berücksichtigt werden. Das Wohl des Kindes muss danach zwar bei jeder Maßnahme berücksichtigt werden, es bindet die staatlichen Stellen aber nicht derart, dass diesem stets der Vorrang eingeräumt werden müsste und nicht andere Gründe überwiegen könnten (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 9. November 2010 - 8 PA 265/10 - V.n.b.). Dass gerade bei der Prüfung von Abschiebungsverboten für gesundheitlich eingeschränkte Kinder das Wohl des Kindes vorrangig beachtet werden muss, liegt in der Natur der Sache und wird auch vom erkennenden Gericht berücksichtigt. Da dieser Vorgabe damit auch im vorliegenden Einzelfall entsprochen wird, sind - unabhängig von der rechtlichen Bindungswirkung des Übereinkommens - über das nationale Recht hinausgehende eigene Prüfungsmaßstäbe anhand der UN-Kinderrechtskonvention hier nicht anzusetzen. Denn selbst bei der Betrachtung des kindlichen Alters des Klägers und seiner Erkrankungen sind schon die (einfachen) Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt und schon gar nicht kann eine extreme Gefahrenlage angenommen werden, da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass seine körperlichen Beschwerden bei einer Abschiebung in den Irak unbehandelt zu einer schwersten Gesundheitsschädigungen oder zum Tod führen könnten. [...]