OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 15.11.2010 - 1 B 156/10 - asyl.net: M17861
https://www.asyl.net/rsdb/M17861
Leitsatz:

Der getrenntlebende drittstaatsangehörige Ehegatte, einer im Bundesgebiet lebenden deutschen Staatsangehörigen, die bisher noch nicht von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, kann sich nicht darauf berufen, die Versagung eines Aufenthaltsrechts nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU diskriminiere ihn wegen der Staatsangehörigkeit seiner Ehegattin.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Abschiebungshindernis, rechtliche Unmöglichkeit, Diskriminierungsverbot, Inländerdiskriminierung, Schutz von Ehe und Familie, deutscher Ehegatte, freizügigkeitsberechtigt, eheliche Lebensgemeinschaft, Duldung
Normen: FreizügG/EU § 3 Abs. 1, FreizügG/EU § 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 21 Abs. 2, GR-Charta Art. 51 Abs. 1, EUV Art. 6, GG Art. 3 Abs. 1, EMRK Art. 14, AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1
Auszüge:

[...]

Dem Antragsteller, der Ehemann einer in Deutschland lebenden deutschen Staatsangehörigen ist, von der er getrennt lebt, steht kein Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG zu. Für die Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 GG genügt nicht die formalrechtliche Bindung, sondern es kommt entscheidend darauf an, ob die eheliche Lebensgemeinschaft tatsächlich noch besteht. Die aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 GG entfällt, wenn die Ehegatten auf Dauer voneinander getrennt leben (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 12.03.1996 – 13 S 3180/95 – Juris, unter Hinweis auf BVerwG, B. v. 12.06.1992, Buchholz 402.240, § 23 AuslG, 1990, Nr. 1 m.w.N.). Dies ist hier der Fall.

Dem Antragsteller steht auch als dem Familienangehörigen einer Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union kein Aufenthaltsrecht zu. Zwar gewährt § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 FreizügG/EU den Ehegatten von Unionsbürgern ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund des Bestehens eines formalen Bandes, ohne dass das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft festgestellt werden müsste. Das FreizügG/EU, das die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (Unionsbürgerrichtlinie) umsetzt, ist jedoch im vorliegenden Fall des Antragstellers nicht anzuwenden. Nach seinem in § 1 FreizügG/EU definierten Anwendungsbereich regelt es die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihrer Familienangehörigen. Auch die Unionsbürgerrichtlinie beschreibt in ihrem Artikel 3 den durch diese Richtlinie Berechtigten als denjenigen Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie dessen Familienangehörigen. So hat auch der Europäische Gerichtshof (Urteil vom 25.07.2008 Rs. C 127/08, Metock, Rdnr. 73) klargestellt, dass nicht alle Drittstaatsangehörigen aus der Richtlinie 2004/38/EG das Recht ableiten, in einen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, sondern nur diejenigen, die im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat. Die Ehefrau des Antragstellers hält sich jedoch in Deutschland auf, dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Der Antragsteller kann sich nicht darauf berufen, das Diskriminierungsverbot nach Art. 21 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta schütze auch ihn vor Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit seiner Ehefrau. Die EU-Grundrechtecharta findet auf den vorliegenden Fall keine Anwendung, denn diese gilt nach Art. 51 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Art. 51 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta bestimmt, dass die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnt. Art. 6 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon, durch den die EU-Grundrechtecharta Aufnahme ins europäische Recht gefunden hat, stellt klar, dass durch die Bestimmungen der Charta die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 25.07.2008, a.a.O., Rdnr. 77, mit Verweis auf Urteil vom 01.04 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C 212/06, Slg. 2008, I 0000, Rdnr. 33) sind die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit und die zur Durchführung dieser Bestimmungen erlassenen Maßnahmen nicht auf Tätigkeiten anwendbar, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen. So liegt es hier.

Dem Antragsteller steht auch kein Anspruch auf Gleichbehandlung gegenüber einem Familienangehörigen eines nichtdeutschen freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers aus Art. 3 Abs. 1 GG zu. Er macht hier sinngemäß geltend, dass er durch die Versagung der Aufenthaltserlaubnis in diskriminierender Weise schlechter gestellt werde, als ein Ausländer, dessen Ehegatte als freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger in Deutschland lebt, weil er - der Antragsteller – sich nicht unmittelbar auf § 3 Abs. 1 FreizügG/EU berufen könne. Dieser Einwand greift jedoch nicht durch. Denn es ist gemessen an Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden, dass der (nationale) Gesetzgeber bei der Behandlung von Ansprüchen Drittstaatenangehöriger zwischen Sachverhalten differenziert, je nach dem, ob die stammberechtigten Angehörigen von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben oder nicht. (vgl. zu Art. 14 EMRK: OVG Bremen, Beschluss vom 26.03.2010 – 1 B 33/10 -, siehe auch österr. Verfassungsgerichtshof, Erkenntnis vom 16.12.2009 – G 244/09 - www.ris.bka.gv.at zum Diskriminierungsverbot in Österreich). Es ist nicht vorgetragen, dass die Frau des Antragstellers von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte.

Dem Antragsteller steht auch kein Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2, § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu. Ein fehlendes Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG macht die Abschiebung des Antragstellers zwar unmöglich. Ein eigenes subjektives Recht auf Erteilung einer Duldung hat der Antragsteller deshalb jedoch nicht. Die Vorschrift soll lediglich verhindern, dass durch ausländerrechtliche Maßnahmen die Strafverfolgung vereitelt oder erschwert wird (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 27.05.2008 – 1 B 193/08 -). Ein Schutz des Ausländers vor ausländerbehördlichen Maßnahme ist damit nicht bezweckt. [...]