BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 31.08.2010 - 2 BvR 223/10 - asyl.net: M17917
https://www.asyl.net/rsdb/M17917
Leitsatz:

Die Durchsuchung der Rechtsanwaltskanzlei und Beschlagnahme von Unterlagen war unverhältnismäßig. Die Tathandlung des § 84 Abs. 1 AsylVfG besteht in der Beeinflussung des Willens eines Ausländers durch Verleitung oder Unterstützung dahingehend, einen unrichtigen oder unvollständigen Asylantrag zu stellen, mit dem Normzweck der Bekämpfung des Schlepperunwesens. Damit gerät schon jede Rechtsberatung unkundiger Asylbewerber, die zulässigerweise darauf ausgerichtet ist, diese bei der Antragstellung zu unterstützen, in die Nähe einer strafbaren Handlung nach § 84 Abs. 1 AsylVfG. Einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff der Wohnungsdurchsuchung ist deshalb dadurch Rechnung zu tragen, dass diese nur bei konkreten Hinweisen auf eine strafbare Handlung und nach sorgfältiger Prüfung der objektiven Umstände und des Vorsatzes vorgenommen wird. Daran fehlt es hier.

Schlagwörter: Durchsuchung, Wohnungsdurchsuchung, Rechtsanwalt, Kanzlei, Asylantrag, Rechtsmissbrauch, Unterstützung, Beihilfe, Amtsermittlung, Tatverdacht,
Normen: GG Art. 13 Abs. 1, GG Art. 14 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 1, AsylVfG § 84, StPO § 53, StPO § 48 Abs. 1
Auszüge:

[...]

I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere hat die Beschwerdeführerin den Rechtsweg hinsichtlich der Beschlagnahme erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Das Amtsgericht hat dadurch, dass es neben der Beschwerde gegen die Durchsuchungsanordnung auch dem "Widerspruch" gegen die Beschlagnahme der Akten nicht abhalf, entsprechend § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO über die Beschlagnahme der Akten entschieden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. März 2009 - 2 BvR 1036/08 -, juris Rn. 52).

II. Mit der Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung durch Art. 13 Abs. 1 GG erfährt die räumliche Lebenssphäre des Einzelnen einen besonderen grundrechtlichen Schutz, in die mit einer Durchsuchung schwerwiegend eingegriffen wird (vgl. BVerfGE 42, 212 219 f.>; 96, 27 40>; 103, 142 150 f.>). Dem Schutz unterfallen auch beruflich genutzte Räume wie Rechtsanwaltskanzleien (vgl. BVerfGE 32, 54 69 ff.>; 42, 212 219>; 96, 44 51>).

Erforderlich zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung ist der Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde. Das Gewicht des Eingriffs verlangt Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen (vgl. BVerfGE 44, 353 371 f.>; 115, 166 197 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Januar 2008 - 2 BvR 1219/07 -, NStZ-RR 2008, S. 176 177>). Diesen Verdacht hat der für die vorherige Gestattung des Eingriffs oder dessen nachträgliche Kontrolle zuständige Richter eigenverantwortlich zu prüfen und dabei die Interessen des Betroffenen angemessen zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 103, 142 151>). Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende, plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 59, 95 97>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Januar 2008 - 2 BvR 1219/07 -, NStZ-RR 2008, S. 176 177>). Der besondere Schutz von Berufsgeheimnisträgern (§ 53 StPO) gebietet bei der Anordnung der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei zudem die besonders sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Januar 2008 - 2 BvR 1219/07 -, NStZ-RR 2008, S. 176 177>). Die Strafverfolgungsbehörden haben dabei auch das Ausmaß der - mittelbaren - Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit der Betroffenen zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 113, 29 48 f.>).

Dem erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Zwangsmaßnahme muss zur Ermittlung und zur Verfolgung der vorgeworfenen Tat erforderlich sein. Auch muss der jeweilige Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu der Schwere der Tat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 59, 95 97>; 96, 44 51>; 115, 166 197>). Im Einzelfall können die Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straftat, eine geringe Beweisbedeutung der zu beschlagnahmenden Gegenstände sowie die Vagheit des Auffindeverdachts der Durchsuchung entgegenstehen (vgl. BVerfGE 115, 166 198>).

Der gerichtliche Durchsuchungsbeschluss dient dazu, die Durchführung der Eingriffsmaßnahme messbar und kontrollierbar zu gestalten (vgl. BVerfGE 42, 212 220>; 103, 142 151>). Dazu muss der Beschluss insbesondere den Tatvorwurf so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen die Zwangsmaßnahme durchzuführen ist. Dies versetzt den von der Durchsuchung Betroffenen zugleich in den Stand, die Durchsuchung seinerseits zu kontrollieren und etwaigen Ausuferungen im Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten von vornherein entgegenzutreten (vgl. BVerfGE 42, 212 221>; 103, 142 151 f.>).

Die Beschlagnahme der Akte ist an Art. 14 Abs. 1 GG zu messen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juli 2008 - 2 BvR 2016/06 -, NJW 2009, S. 281 282>). Soweit Daten aus dem Rechner kopiert wurden, ist der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG eröffnet (vgl. BVerfGE 113, 29 45>). Bei einer Maßnahme nach § 94 StPO muss der Tatverdacht ebenfalls in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat und zur Stärke des Tatverdachts stehen und für die Ermittlungen notwendig sein (vgl. BVerfGE 20, 162 186 f.>; 113, 29 53>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juli 2008 - 2 BvR 2016/06 -, NJW 2009, S. 281 282>). Schließlich ist auch hier die mittelbare Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juli 2008 - 2 BvR 2016/06 -, NJW 2009, S. 281 282>).

III. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des Landgerichts Münster nicht gerecht. Die Annahme der Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung und der Beschlagnahme ist von Verfassungs wegen nicht haltbar.

1. Das Landgericht ist insbesondere im Hinblick auf die anwaltliche Tätigkeit der Beschwerdeführerin den verfassungsrechtlichen Maßstäben bei der Prüfung des Tatverdachts nicht gerecht geworden. Der Straftatbestand des § 84 Abs. 1 AsylVfG, dessen Normzweck die Bekämpfung des Schlepperunwesens ist (BTDrucks 12/5683, S. 7), führt in Fällen der rechtsanwaltlichen Beratung zu Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen dem tatbestandlichen Verhalten einerseits und einer zulässigen Rechtsberatung andererseits (vgl. Schmidt-Sommerfeld, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 6/2, 2009, § 84 AsylVfG Rn. 4). Die Tathandlung besteht in der Beeinflussung des Willens eines Ausländers durch Verleitung oder Unterstützung dahingehend, einen unrichtigen oder unvollständigen Asylantrag zu stellen (vgl. Schmidt-Sommerfeld, a.a.O., Rn. 22; Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Bd. 1, § 84 AsylVfG Rn. 7 f. <Juli 2009>). Die Tatbestandsalternative der Unterstützung, die den Charakter einer Beihilfe hat, kann in jeder Handlung liegen, die einen bereits zur Handlung entschlossenen Ausländer in irgendeiner Art und Weise bei der Verwirklichung seines Vorhabens fördert oder bestärkt (vgl. Marx, AsylVfG, 7. Aufl. 2009, § 84 Rn. 11). Damit gerät schon jede Rechtsberatung unkundiger Asylbewerber, die zulässigerweise darauf ausgerichtet ist, diese bei der Antragstellung zu unterstützen, in die Nähe einer strafbaren Handlung nach § 84 Abs. 1 AsylVfG. Den besonderen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zwischen dem tatbestandlichen Handeln und einer zulässigen Rechtsberatung ist jedenfalls bei dem schwerwiegenden Grundrechtseingriff einer Wohnungsdurchsuchung dadurch Rechnung zu tragen, dass diese nur bei konkreten Hinweisen auf eine strafbare Handlung nach § 84 AsylVfG und nach sorgfältiger Prüfung der objektiven Umstände und des Vorsatzes vorgenommen wird.

Diesen Vorgaben ist das Landgericht schon bei der Prüfung des Tatverdachts nicht gerecht geworden. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, dass der Fertigung des Asylantrags und der Einreise von B.M. ein Gespräch mit dessen Frau in ihrer Kanzlei vorangegangen war, hätte das Landgericht im konkreten Fall Anlass geben müssen, von einer Durchsuchung abzusehen. Dass ein solches Gespräch stattgefunden hat, war auch der Zeugenaussage der Tante vom 18. April 2008 zu entnehmen. Es liegt nahe, dass in diesem Gespräch die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen einer Asylantragstellung zumindest ansatzweise erörtert worden sind. Dabei ist es auch unschädlich, dass das Gespräch mit der Ehefrau und nicht mit dem Antragsteller selbst geführt wurde, weil diese mit dem Sachverhalt vertraut war.

2. Selbst wenn die Auslegung des § 84 Abs. 1 AsylVfG und die Annahme des Tatverdachts durch die Gerichte als noch vertretbar eingestuft würden, ist die Maßnahme als nicht mehr verhältnismäßig anzusehen. In Anbetracht der Tatsache, dass ein kaum über bloße Vermutungen hinausreichender Tatverdacht bestanden hat, waren die Durchsuchung und die Beschlagnahme unverhältnismäßig. Zunächst hätte vor der Anordnung der Durchsuchung der Versuch unternommen werden müssen, den Sachverhalt durch eine richterliche Vernehmung der Zeugen M. weiter aufzuklären (§ 48 Abs. 1 StPO). Insoweit hätte ein Ermittlungsansatz zur Verfügung gestanden, der weniger tiefgreifend in die Rechte der Beteiligten eingegriffen hätte. Hinsichtlich der Schwere der in Frage stehenden Straftat ist von Bedeutung, dass der konkrete Sachverhalt keine schwere Tat oder den Eintritt schwerer Tatfolgen erkennen lässt. Der Tatbestand des § 84 AsylVfG ist auf die effektive Bekämpfung der Schlepperkriminalität ausgerichtet, so dass sich die Schuld der Beschwerdeführerin bei einer Tatbestandverwirklichung im unteren Bereich der Strafandrohung bewegen würde. In die Verhältnismäßigkeitsprüfung muss außerdem eingestellt werden, dass bei der Durchsuchung der Kanzlei und der Suche auf dem Rechner empfindliche Daten Dritter gefährdet waren (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Januar 2008 - 2 BvR 1219/07 -, NStZ-RR 2008, S. 176 177>). Dementsprechend befanden sich in den Akten auch Aktenbestandteile, die andere strafrechtliche und zivilrechtliche Verfahren des Ehepaars M. zum Gegenstand hatten und für das Ermittlungsverfahren gegen die Beschwerdeführerin nicht als Beweismittel in Betracht kamen.

Auf dieser Grundlage konnte das staatliche Interesse an der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten, welchem nach dem Grundgesetz eine hohe Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGE 100, 313 388>), den schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte der Beschwerdeführerin nicht rechtfertigen. [...]