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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 27.08.2010 - 2 BvR 130/10 [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 38 ff.] - asyl.net: M17918
https://www.asyl.net/rsdb/M17918
Leitsatz:

1. Soweit die Prognose einer Wiederholungsgefahr von Straftaten Bedeutung im Rahmen einer grundrechtlich erforderlichen Abwägung hat (hier Art. 6 GG), bedarf es einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Einschätzung abgewichen werden soll (hier: Strafaussetzung zur Bewährung). Die Ausländerbehörde ist zwar rechtlich nicht an die tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen des Strafrichters gebunden, trotzdem ist diese für die Ausländerbehöre von tatsächlichem Gewicht, denn sie stellt eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr und damit zugleich für die Erforderlichkeit der Ausweisung dar.

2. Auch im Falle einer Beistandsgemeinschaft unter volljährigen Familienmitgliedern kommt es für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, familiäre Beistandsgemeinschaft, Schutz von Ehe und Familie, Straftat, Ausweisung, Freiheitsstrafe, Bewährung, Rechtsweggarantie, Änderung der Sachlage, Freispruch, Wiederholungsgefahr, Strafaussetzung, Adoption
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, VwGO § 123, StGB § 56, StGB § 57, BGB § 1770
Auszüge:

[...]

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anforderungen an die Prüfung der einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden familiären und der sie rechtfertigenden spezialpräventiven Belange im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren. [...]

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die Ablehnung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz durch das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG, hinsichtlich des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts ist zudem eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG festzustellen.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG. Sie verkennen die grundrechtliche Bedeutung des Rechtsschutzbegehrens des Beschwerdeführers und die daran anknüpfenden Erfordernisse für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. [...]

(1) Ist dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ein gerichtliches Verfahren vorangegangen und fordert das materielle Recht, dass die seither eingetretenen Änderungen des Sachverhalts Berücksichtigung finden, bevor die streitgegenständliche Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt, so ist der Rechtsschutz nur dann effektiv, wenn die Gerichte ihre Pflicht zur Berücksichtigung der neuen Umstände nicht grundlegend verkennen. Dem Antrag des Beschwerdeführers auf vorläufigen Rechtsschutz war ein Klageverfahren über seine Ausweisung vorangegangen. In dem auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung gerichteten Verfahren waren die Gerichte verpflichtet, seit dem Beurteilungszeitpunkt im Klageverfahren eingetretene Änderungen des Sachverhalts, die für die Beurteilung der Vereinbarkeit der Aufenthaltsbeendigung mit Art. 6 Abs. 1 GG erheblich waren, in einer dem Gewicht der behaupteten Grundrechtsverletzung angemessenen Intensität zu würdigen. Dies ist hier unterblieben. Die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist der Komplexität der Sach- und Rechtsfragen nicht gerecht geworden (vgl. BVerfGK 11, 153 159>) und hat die durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotene Funktion des Verfahrens nach § 123 VwGO verfehlt, so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können; das ausnahmsweise Entgegenstehen überwiegender, besonders gewichtiger Gründe haben die Gerichte nicht festgestellt.

(2) Der Beschwerdeführer hat den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz unter anderem darauf gestützt, dass er im September 2009 von dem Vorwurf der räuberischen Erpressung freigesprochen worden war. Die Bedeutung dieses neuen Umstandes für das Erfordernis vorläufigen Rechtsschutzes haben die Gerichte in verfassungsrechtlich erheblicher Weise verkannt.

Nach ihrem einfachrechtlichen Ausgangspunkt mussten die Gerichte zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes die grundrechtliche Abwägung hinsichtlich der Aufenthaltsbeendigung unter Einbeziehung des neuen Umstandes vornehmen. Hierbei hatten sie das öffentliche Interesse an der Verhinderung weiterer Straftaten des Beschwerdeführers zu bewerten und zu diesem Zweck die von ihm ausgehende Wiederholungsgefahr festzustellen. Angesichts der von ihm vorgetragenen grundrechtlichen Belange (dazu unten b) konnte sich ein hinreichendes Interesse an sofortiger Aufenthaltsbeendigung entgegen der Annahme des Niedersächsischen Justizministeriums nicht allein aus der Tatsache ergeben, dass der Beschwerdeführer über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren immer wieder straffällig geworden war; hinzukommen musste die zukunftsgerichtete Feststellung der Notwendigkeit dieser Maßnahme auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die ausländerbehördliche Prüfung der Wiederholungsgefahr vor allem eine etwaige strafrichterliche Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung von Bedeutung. Allerdings besteht für die Ausländerbehörde unbeschadet dessen, dass sie in der Regel von der Richtigkeit der strafrichterlichen Entscheidung ausgehen darf, keine rechtliche Bindung an die tatsächlichen Feststellungen und an die Beurteilungen des Strafrichters. Das gilt auch bezüglich der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung. Trotzdem ist diese für die Ausländerbehörde von tatsächlichem Gewicht. Sie stellt eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr und damit zugleich für die Erforderlichkeit der Ausweisung dar. Die Ausländerbehörde wird zwar berücksichtigen, dass dem Strafrecht und dem Ausländerrecht unterschiedliche Gesetzeszwecke zugrunde liegen. Sie muss aber der sachkundigen strafrichterlichen Prognose bei ihrer Beurteilung der Wiederholungsgefahr wesentliche Bedeutung beimessen und wird von ihr grundsätzlich nur bei Vorliegen überzeugender Gründe abweichen. Solche können zum Beispiel dann gegeben sein, wenn der Ausländerbehörde umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, das genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt (vgl. BVerwGE 57, 61 66>; 102, 12 20 f.>). Dies gilt namentlich bei einer Strafaussetzung nach § 56 StGB, während die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung im Sinne des § 57 StGB ausweisungsrechtlich geringeres Gewicht hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 - 2 BvR 2120/99 -, NVwZ 2001, S. 67 69>; BVerwGE 112, 185 193>; BVerwG, Urteil vom 2. September 2009 - 1 C 2/09 -, NVwZ 2010, S. 389 390>; Discher, in: GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. Rn. 1241 <Juni 2009>). Jedenfalls soweit die Prognose der Wiederholungsgefahr Bedeutung im Rahmen einer grundrechtlich erforderlichen Abwägung hat, bedarf es einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Einschätzung abgewichen werden soll (vgl. Discher, a.a.O., Rn. 1231 <Juni 2009>).

Die gegen den Beschwerdeführer verhängten Freiheitsstrafen waren von den Strafgerichten zur Bewährung ausgesetzt worden. Das Verwaltungsgericht war in dem Klageverfahren betreffend die Ausweisung gleichwohl zur Annahme einer Wiederholungsgefahr gelangt, hatte dabei aber auf einen den Strafgerichten nicht bekannten Umstand, nämlich das zur Anklage gelangte Ermittlungsverfahren wegen räuberischer Erpressung, abstellen können. Vor diesem Hintergrund konnte das Verwaltungsgericht Eilrechtsschutz nunmehr nicht mit der nicht näher erläuterten Erwägung verweigern, der inzwischen erfolgte Freispruch lasse nicht hinreichend sicher prognostizieren, dass der Beschwerdeführer keine weiteren Straftaten begehen werde. Es fehlt, obwohl das Verwaltungsgericht keine überlegene Kenntnis für sich in Anspruch nehmen konnte, an jeder Auseinandersetzung mit der strafgerichtlichen Sozialprognose und infolgedessen an einer nachvollziehbaren Gefahrenermittlung. Sollte das Verwaltungsgericht angenommen haben, mit der rechtskräftigen Abweisung der Klage gegen die Ausweisung seien auch die diese tragenden Feststellungen einer durch neu hinzutretende Umstände veranlassten Neubewertung der Gefahrenlage entzogen, wäre dies mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar.

Das Oberverwaltungsgericht hat dieses Defizit nicht behoben. Soweit es ausführt, auf den Vorwurf der räuberischen Erpressung hätten sich Ausländerbehörde und Verwaltungsgericht nicht gestützt, ersetzt dies nicht nur nicht die gebotenen Feststellungen zum Vorliegen einer Wiederholungsgefahr, ohne die die grundrechtliche Abwägung nicht zu einem vertretbaren Ergebnis führen kann. Die Begründung des Oberverwaltungsgerichts lässt vielmehr erkennen, dass es die Bedeutung des vom Beschwerdeführer geltend gemachten Umstands für das Eilverfahren grundlegend verkannt hat.

Das Oberverwaltungsgericht hat im Rahmen der Beschwerdeentscheidung eine eigene Abwägung zwischen familiären Belangen und dem öffentlichen Interesse vorgenommen und dabei das Grundrecht auf Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt.

Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 49 f.>; 80, 81 93>). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten (vgl. BVerfGK 2, 190 194>).

Der Beschwerdeführer kann sich im Verhältnis zu den leiblichen Eltern auf das Grundrecht berufen, weil die Adoption des Beschwerdeführers als Volljährigen die Verwandtschaftsverhältnisse aus seiner Abstammung grundsätzlich nicht berührt (§ 1770 Abs. 2 BGB) und das Verhältnis des leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters zu seinem Kind von Art. 6 Abs. 1 GG erfasst wird (vgl. BVerfGE 108, 82 112>).

Das Oberverwaltungsgericht hat das konkrete Gewicht der in die Abwägung einzustellenden Belange unbestimmt gelassen und damit die grundrechtlichen Anforderungen an die Abwägung im Rahmen des Eilrechtsschutzes verfehlt.

Das Oberverwaltungsgericht hat zunächst angenommen, die Schwestern könnten die Eltern auch ohne den Beschwerdeführer pflegen. Eine daran anknüpfende Abwägung der verbleibenden, durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Interessen des Beschwerdeführers mit dem öffentlichen Interesse an sofortiger Aufenthaltsbeendigung fehlt.

Allerdings enthält der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts die Erwägung, das Schutzziel des Art. 6 Abs. 1 GG, bei entsprechendem Bedarf überhaupt eine familiäre Betreuung zu ermöglichen, sei auch bei einer Abschiebung des Beschwerdeführers nicht gefährdet, weil seine Schwestern die Betreuung der Eltern vollständig sicherstellen könnten. Sollte es sich hierbei - entgegen der in der Entscheidung über die Anhörungsrüge zum Ausdruck gekommenen Meinung des Oberverwaltungsgerichts - um eine tragende Begründung handeln, läge ein verfassungsrechtlich erheblicher Abwägungsmangel vor. Auch im Falle einer Beistandsgemeinschaft unter volljährigen Familienmitgliedern kommt es für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Dezember 1989 - 2 BvR 377/88 -, NJW 1990, S. 895 896>). Die Abwägung mit den öffentlichen Belangen kann in Fällen wie dem vorliegenden zwar gerade dann, wenn mehrere Personen versuchen, sich durch Aufteilung der Beistandsleistungen ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen, ergeben, dass das Interesse an der Aufrechterhaltung des familiären Beistandes teilweise zurückzutreten hat. Das Oberverwaltungsgericht ist aber in eine solche Abwägung nicht eingetreten und hat infolgedessen insbesondere nicht ergründet, ob die betroffenen Grundrechtsträger Vorschläge zur zukünftigen aufenthaltsrechtlichen Gestaltung vorzubringen haben.

(2) Es ist daher davon auszugehen, dass das Oberverwaltungsgericht mit den die folgende Abwägung einleitenden Worten: "Selbst bei Annahme eines gewichtigen familiären Belanges zugunsten des Antragstellers …" für die von ihm für maßgeblich erachtete Abwägung unterstellt, die familiäre Pflege der Eltern sei ohne den Beschwerdeführer nicht vollständig sichergestellt. Es gibt aber nicht zu erkennen, welche tatsächlichen Konsequenzen es seiner Entscheidung zugrunde legt. Der Frage, ob trotz der mangelnden Sprachkenntnisse der Eltern ein Pflegedienst den Beistand des Beschwerdeführers überhaupt ersetzen kann, geht es nicht nach. Deswegen legt es sich auch nicht die Frage vor, ob eine stationäre Unterbringung der Eltern des Beschwerdeführers nötig werden könnte, was nicht nur die grundrechtlich geschützte Beistandsgemeinschaft zwischen den Eltern und den Schwestern des Beschwerdeführers beeinträchtigen würde, sondern auch zur Folge hätte, dass die Eltern Pflege nicht mehr von einem Familienangehörigen, sondern von einem Außenstehenden erhalten würden. Das Oberverwaltungsgericht verhält sich auch nicht dazu, dass der Beschwerdeführer nach seiner Abschiebung gehindert wäre, den hilfsbedürftigen Eltern in den letzten Jahren ihres Lebens beizustehen.

Da auch die Wiederholungsgefahr im Ansatz unzutreffend und im Übrigen ohne nähere Angabe des Gewichts des öffentlichen Interesses bestimmt worden ist, ist die grundrechtliche Abwägung hinsichtlich aller in sie einzustellenden Belange unzureichend und ohne den erforderlichen Einzelfallbezug erfolgt. [...]