OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 02.12.2010 - 2 A 297/10.A - asyl.net: M17927
https://www.asyl.net/rsdb/M17927
Leitsatz:

Wer in einem anderen Staat bereits Schutz vor politischer Verfolgung im Staat seiner Staatsangehörigkeit gefunden hat und diesen Schutz weiterhin in Anspruch nehmen kann, hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Asylanerkennung, Russische Föderation, Tschetschenen, Polen, Verfolgungssicherheit, Abschiebungsandrohung
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 6, AsylVfG § 27, GG Art. 16a Abs. 1, RL 2005/85/EG Art. 25, RL 2005/85/EG Art. 26, AsylVfG § 34 Abs. 1, AufenthG § 59 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zu der Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist (1). Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG liegen in seiner Person nicht vor (2.). Die Abschiebungsandrohung im angefochtenen Bescheid des Bundesamtes ist hinsichtlich der Russischen Föderation aufzuheben (3.).

Gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab. Maßgeblich für die Beurteilung des Begehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist danach § 3 Abs. 1 AsylVfG i.d.F. der Bekanntmachung vom 02.09.2008 (BGBl. I, S. 1798) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 25.02.2008 (BGBl. I, S. 162).

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind gemäß § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EG Nr. L 304 S. 12) sog. Qualifikationsrichtlinie (QRL) - ergänzend anzuwenden.

Angesichts der Tatsache, dass der Kläger bereits seit 2001 Inhaber eines in Polen ausgestellten Flüchtlingsausweises ist, ist nicht davon auszugehen, dass er im Jahre 2002 Tschetschenien wegen einer individuellen Vorverfolgung oder unmittelbar bevorstehenden individuellen Verfolgung verlassen hat. Die näheren Umstände seiner Ausreise bedürfen einer Aufklärung für dieses Verfahren allerdings nicht, denn flüchtlingsrechtlicher Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann dem Kläger bereits deshalb nicht zuerkannt werden, weil er schon 2001 einen Flüchtlingsstatus in Polen erhalten hat.

Zwar schließt § 27 AsylVfG in den der in der Vorschrift näher definierten Fällen anderweitiger Sicherheit vor politischer Verfolgung nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG ausdrücklich aus. Da aber auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention vom Grundsatz der Subsidiarität geprägt ist und grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtlandes, insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittfluchtlandes vermittelt, kann ein Flüchtling, der bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden hat – unbeschadet des unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat – darüber hinaus nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen (vgl. BVerwG, U. v. 08.02.2005 – BVerwG 1 C 29.03 – BVerwGE 122, 376ff; Hailbronner, AuslR, 69. Aktualisierung Juni 2010, § 60 Rn. 42).

Dieses Verständnis liegt auch Art. 25, 26 der Richtlinie des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für das Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. EU L 326/13) zugrunde. Danach können die Mitgliedstaaten Asylanträge u. a. als unzulässig betrachten, wenn ein Drittstaat als erster Asylstaat des Asylbewerbers betrachtet wird, nämlich wenn der Asylbewerber in dem betreffenden Staat als Flüchtling anerkannt wurde und er diesen Schutz weiterhin in Anspruch nehmen kann oder ihm in dem betreffenden Staat anderweitig ausreichender Schutz, einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährt wird, vorausgesetzt, dass er im Hoheitsgebiet dieses Staates wieder aufgenommen wird. Der Kläger ist im Jahre 2001 in der Republik Polen - und mithin zu einem Zeitpunkt als Polen noch nicht Mitglied der Europäischen Union war - als Flüchtling anerkannt worden und hat dort einen Aufenthaltstitel erhalten, der zuletzt 2009 bis zum 23.04.2012 verlängert worden ist. Mit diesem Status war er vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher und ist es auch weiterhin, da er als Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels jederzeit nach Polen zurückkehren und sich dort aufhalten kann. Für den Kläger kann mithin die Feststellung, dass für seine Person die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, nicht erfolgen.

Das Bundesamt ist auch nicht nach § 60 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. AufenthG verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gegeben sind. Nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG besteht ein Abschiebungsverbot u.a. auch für Ausländer, die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Diese an die Anerkennung als Flüchtling in einem anderen Land anknüpfende gesetzliche Fiktion begründet jedoch keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzung des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gegen das Bundesamt. Dieses ergibt sich im Umkehrschluss aus § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG (früher: § 51 Abs. 2 Satz 2 AuslG). Danach stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fest, ob die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots vorliegen, allerdings "außer in den Fällen des Satzes 2". Es fehlt somit an einem Feststellungsanspruch gegenüber der Beklagten (BVerwG, B. v. 03.11.2006 - BVerwG 1 B 30/06 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 27; Nds. OVG, U. v. 07.12.2005 – 11 LB 193/04 – InfAuslR 2006, 157; vgl. in diesem Sinne zu § 51 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AuslG auch BVerwG, Urt. v. 28.04.1998 – 9 C 54.97 – juris -).

Das Bundesamt ist in den Fällen des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht verpflichtet, noch tätig zu werden; denn es bedarf nicht (mehr) der besonderen Sachkunde des Bundesamtes dazu, ob politische Verfolgung vorliegt, weil dieses in den Fällen des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bereits feststeht (vgl. VG Freiburg, Urt. v. 07.05.2002 – 7 K 10114/00 – juris; OVG Nordrhein-Westf., B. v. 04.02.1999 – 21 A 4014/98 A – juris; Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 60 AufenthG Anm. 21). Eine positive Feststellung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann danach ihre Grundlage nicht in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG finden. Die formale Rechtsstellung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist erst im Rahmen der Abschiebungsandrohung vom Bundesamt oder auch von der Ausländerbehörde) zu beachten. [...]

Die in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung in die Russische Föderation ist aufzuheben, denn das Bundesamt durfte bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG dem Kläger nicht die Abschiebung in seinen Heimatstaat androhen (§ 34 Abs. 1 AsylVfG, § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) bzw. die Abschiebungsandrohung nicht aufrechterhalten, nachdem während des gerichtlichen Verfahrens bekannt geworden war, dass dem Kläger in Polen der Flüchtlingsstatus bereits 2001 zuerkannt worden war. Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 S. 2 AsylVfG erstreckt sich allerdings nicht auf sonstige sichere Drittstaaten (vgl. Hailbronner, a.a.O. § 60 Rn. 48), so dass die Abschiebungsandrohung im Übrigen aufrechterhalten bleibt. [...]