VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 22.11.2010 - M 10 K 10.185 [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 45] - asyl.net: M17947
https://www.asyl.net/rsdb/M17947
Leitsatz:

Die Zurückschiebung des Klägers durch die Bundespolizei aus dem Transitbereich des Flughafens München in die Russische Föderation war rechtswidrig.

1. Eine behördliche Anordnung der vom Kläger ohnehin beabsichtigten Ausreise nach Moskau oder gar eine zwangsweise Durchsetzung derselben, wie sie § 57 AufenthG ermöglicht, ging damit von vornherein ins Leere. Es ist bereits fraglich, ob § 57 AufenthG als Rechtsgrundlage in derartigen Fällen in Betracht kommt.

2. Die Zurückschiebung war zudem nicht gerechtfertigt, da es aus rechtsstaatlichen Gründen grundsätzlich nicht zulässig ist, eine Zwangsmaßnahme zu ergreifen, wenn der Betroffene seiner rechtlichen Verpflichtung in vergleichbarer Weise freiwillig nachkommen will. Die Zurückschiebung diente letztlich nur dazu, das mit dieser verbundene Einreiseverbot gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 AufenthG zu bewirken. Eine Zurückschiebung mit einer derartigen Zielsetzung ist jedoch grundsätzlich unzulässig.

Schlagwörter: Zurückschiebung, freiwillige Ausreise, Bundespolizei, Italien, Russische Föderation, Schengen-Visum, unerlaubte Einreise, Transitbereich, Flughafen, Sperrwirkung, Vollzugsfolgen, Zwangsmittel, Zwangsvollstreckung, Ermessen, atypischer Ausnahmefall, Verhältnismäßigkeit, Widerspruch, Widerspruchsbescheid
Normen: AufenthV § 26 Abs. 1, AufenthG § 57 Abs. 1, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger wendete sich mit seiner Klage gegen eine Zurückschiebung durch die Bundespolizeiinspektion Flughafen München.

Der am ... 1965 geborene Kläger ist russischer Staatsangehöriger.

Am 10. September 2009 kam der Kläger aus Mailand kommend am Flughafen München an. Er beabsichtigte, von dort die Heimreise nach Moskau fortzusetzen. Er war im Besitz eines Reisepasses, der mit einem am 3. Dezember 2008 erteilten italienischen Schengen-Visum der Kategorie D und C, gültig vom 5. Dezember 2008 bis 4. Dezember 2009 für mehrere Einreisen und eine Aufenthaltsdauer von 365 Tagen versehen war.

Der Kläger wurde infolge einer Kontrolle nach Moskau (Russland) zurückgeschoben. [...]

Das Verfahren ist aufgrund der übereinstimmenden Erledigterklärung der Parteien in analoger Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

Nach § 161 Abs. 2 VwGO ist nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Billigem Ermessen entspricht es im vorliegenden Fall, die Kosten der Beklagten aufzuerlegen, da die Zurückschiebungsverfügung vom 10. September 2009 und der Widerspruchsbescheid vom 28. Dezember 2009 rechtswidrig waren.

Die Klage hätte bis zu ihrer endgültigen Erledigung durch die Beseitigung der Vollzugsfolgen mit der Aufhebung des Wiedereinreiseverbots durch den Bescheid vom 01. März 2010 Erfolg gehabt.

Gemäß § 57 Abs. 1 AufenthG soll ein Ausländer, der unerlaubt eingereist ist, innerhalb von 6 Monaten nach Grenzübertritt zurückgeschoben werden. Es kann im vorliegenden Fall dahinstehen, ob eine unerlaubte Einreise des Klägers i.S.v. § 57 Abs. 1 AufenthG in Folge eines nicht ausreichenden Visums vorlag. Jedenfalls war die Anordnung einer Zwangsmaßnahme durch die Bundespolizei allein schon deshalb nicht gerechtfertigt, da der Kläger bereits auf dem Weg war, freiwillig auszureisen und ein weiterer Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland unstrittig zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt war.

Es ist schon fraglich, ob die mit Bescheid vom 10. September 2009 als Zurückschiebung bezeichnete Maßnahme überhaupt auf die Befugnisnorm des § 57 AufenthG gestützt werden kann. Die Zurückschiebung gemäß § 57 Abs. 1 AufenthG dient der effektiven Verhinderung der Begründung eines dauerhaften unerlaubten Aufenthalts (GK-AufenthG, Funke-Kaiser, § 57 RdNr. 2). Gedanklich setzt sie deshalb voraus, dass sich der Betroffene tatsächlich weiter im Bundesgebiet aufhalten will. Dies war hier jedoch nach dem übereinstimmenden Sachvortrag der Parteien nicht der Fall. Vielmehr war der Kläger auf seiner Weiterreise nach Moskau. Sein einziges Ziel, das er im Zeitpunkt des Erlasses der Zurückschiebung verfolgte, war das Verlassen des Bundesgebiets. Diese Zielsetzung wird durch die Zusatzangaben zum Bescheid der Beklagten vom 10. September 2009 deutlich (Bl. 8 der Behördenakten). Dort wird ausgeführt, dass der Kläger zur Ausreisekontrolle erschien. Eine behördliche Anordnung der vom Kläger ohnehin beabsichtigten Ausreise oder gar eine zwangsweise Durchsetzung derselben, wie sie § 57 AufenthG ermöglicht, ging damit von vornherein ins Leere.

Eine Zurückschiebung war auch für den Fall, dass die Verfügung unter § 57 AufenthG zu subsumieren wäre, nicht gerechtfertigt, da selbst beim Vorliegen einer unerlaubten Einreise i.S.v. § 57 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein atypischer Fall vorlag, der eine Zurückschiebung nicht erlaubte.

§ 57 Abs. 1 AufenthG eröffnet den Behörden ein eingeschränkte Ermessen. Zwar soll eine Zurückschiebung im Fall einer unerlaubten Einreise in der Regel erfolgen. Bei atypischen Fallkonstellationen ist jedoch von einer Zurückschiebung abzusehen. Allgemein wird eine Zurückschiebung nicht in Betracht kommen, wenn dies dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widerspricht (GK-AufenthG, Funke-Kaiser, § 57 RdNr. 40.1). Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung sind dabei nicht nur die in Nr. 57.1.7 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz beispielhaft genannten Fälle zu berücksichtigen. Vielmehr ist dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und insbesondere dem Element der Erforderlichkeit stets Rechnung zu tragen (Westphal/Stoppa, AuslR für die Polizei, 3. Aufl. 2007, Kapitel E Nr. 19.5). Es ist deshalb aus rechtsstaatlichen Gründen grundsätzlich nicht zulässig, eine Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, wenn der Betroffene seiner rechtlichen Verpflichtung in vergleichbarer Weise freiwillig nachkommen will (Westphal/Stoppa a.a.O.). Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze erweist sich die streitgegenständliche Zurückschiebungsverfügung als rechtswidrig. Denn beide Parteien gehen übereinstimmend davon aus, dass der Kläger freiwillig nach Moskau ausreisen wollte und eine Zurückschiebung zur Durchsetzung der nach Auffassung der Beklagten bestehenden Ausreisepflicht nicht notwendig war. Die Zurückschiebung diente letztlich nur dazu, das mit dieser verbundene Einreiseverbot gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu bewirken. Eine Zurückschiebung mit einer derartigen Zielrichtung ist jedoch grundsätzlich unzulässig (Westphal/Stoppa, AuslR für die Polizei, Kapitel E Nr. 19.5, S. 564).

Darüber hinaus weist das Gericht darauf hin, dass der Widerspruchsbescheid vom 28. Dezember 2009 zudem von der unzutreffenden Auffassung ausgeht, dass sich die Zurückschiebung durch deren Vollzug erledigt. Ein Widerspruch ist nicht unzulässig, wenn die Zurückschiebung bereits durchgeführt wurde. Es sind jedenfalls solange Vollzugsfolgen der Zurückschiebung vorhanden, solange diese Wiedereinreisesperre des § 11 AufenthG fortbesteht. Die Zurückweisung des Widerspruchs als unzulässig war daher ebenfalls rechtswidrig.

Die Beklagte wäre dazu aufgerufen gewesen, die offensichtlich weder erforderliche noch zweckmäßige Entscheidung spätestens im Widerspruchsverfahren zu revidieren.

Es entspricht nach alldem billigem Ermessen, die Kosten der Beklagten aufzuerlegen. [...]