VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 19.07.2010 - W 7 K 10.30043 - asyl.net: M17957
https://www.asyl.net/rsdb/M17957
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für eine 60-jährige Frau, die aufgrund ihres Alters, ihres angegriffenen Gesundheitszustandes sowie mangelnder familiärer Unterstützung keine Existenzgrundlage mehr in Armenien hat.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Armenien, Existenzgrundlage, Sicherung des Lebensunterhalts, Krankheit, psychische Erkrankung, Depression, Schwindel, Zystocele, Lumboischialgie, Trochanterreizsyndrom,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach Armenien einer solchen konkreten Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt. Für die Frage nach dem Vorliegen einer solchen Gefahr ist unerheblich, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG v. 17.10.1995, BVerwGE 99. 324). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise i.S. einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG v. 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn die für den Eintritt der Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (BVerwG v. 18.07.2001, Buchholz 402.240, § 53 AuslG Nr. 46). Ein zwingendes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt auch dann in Betracht, wenn einem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung mangels einer ausreichenden Existenzmöglichkeit die Gefahr droht, an Hunger oder Krankheit zu sterben (vgl. BVerwG v. 02.09.1997, BVerwGE 105, 127; VGH Baden-Württemberg v. 02.04.1998, Az: 11 S 3168/97); dies kommt in Betracht, wenn das wirtschaftliche Existenzminimum, also das Vorhandensein einer Unterkunft, die Gewährleistung ausreichender Verpflegung und die Verfügbarkeit einer Grundversorgung im medizinischen Bereich, nicht gesichert ist (vgl. VGH Baden-Württemberg v. 17.01.2000 Az: 11 S 1528/99). In Anwendung dieser Grundsätze ist das Gericht bei der vorzunehmenden qualifizierenden und bewertenden Betrachtungsweise aufgrund der Auskünfte und Informationen zur sozialen und wirtschaftlichen Lage in Armenien zu der Überzeugung gelangt, dass im vorliegenden Einzelfall der Klägerin bei einer Rückkehr nach Armenien eine konkrete Gefahr für Leib und Leben drohen würde. Das Gericht ist der Auffassung, dass es der Klägerin aufgrund der im vorliegenden Einzelfall gegebenen besonderen Umstände nicht möglich sein wird, sich in Armenien eine wirtschaftliche Existenzgrundlage aufzubauen. Diese wird daher ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft sicherstellen können und deshalb mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit innerhalb kürzester Zeit schwerste körperliche Schäden erleiden. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vom 19. Juli 2010 glaubhaft ausgeführt, über keinerlei wirtschaftliche Mittel mehr zu verfügen. Sie habe ihre Wohnung vor dem Verlassen Armeniens verkauft und das dafür erhaltene Geld für das Grab ihrer Schwiegermutter und für die Reise nach Deutschland ausgegeben. Ebenfalls habe sich die Klägerin von ihrem Mann getrennt und wisse nichts über dessen aktuellen Aufenthalt. Die 60-jährige Klägerin hat seit 20 Jahren nicht mehr selbst gearbeitet, sondern vom Einkommen ihres Mannes gelebt. Die Klägerin leidet an einer Zystocele, Stressinkontinenz, Phobischem Schwankschwindel, einer psychogenen Gangstörung, einer depressiven Episode, einer Anpassungsstörung sowie einer Lumboischialgie rechts und einem Trochanterreizsyndrom rechts (vgl. das vorgelegte Gutachten der Missionsärztlichen Klinik Würzburg vom 12. Juli 2010). Wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt hat und sich dem vorgelegten Attest entnehmen lässt, leidet diese unter häufigen Schwindelattacken, durch die sie sich schon zahlreiche Sturzverletzungen zugezogen hat. Insgesamt ist der Gesundheitszustand der Klägerin insbesondere im psychischen Bereich stark beeinträchtigt. Auch wenn die Ereignisse im Zusammenhang mit den armenischen Parlamentswahlen lediglich die Tochter der Klägerin betreffen und daher für die Klägerin selbst die Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausscheidet, erscheint es dennoch nicht fernliegend, dass die Klägerin durch die Bedrohungen ihrer Tochter selbst Angstzustände erlebt hat und dies bei ihr zu psychischen Beeinträchtigungen geführt hat (zu den Einzelheiten der Vorgänge vgl. VG Würzburg v. 05.07.2010, Az: W 7 K 10.30062). In Anbetracht des Alters der Klägerin, ihrer angeschlagenen gesundheitlichen Situation und der Tatsache, dass diese seit 20 Jahren nicht mehr im früher von ihr ausgeübten Beruf als Lehrerin tätig gewesen ist, geht das Gericht davon aus, dass es dieser bei einer Rückkehr nach Armenien nicht möglich sein wird, sich in angemessener Zeit eine wirtschaftliche Existenzgrundlage aufzubauen. In Armenien gibt es keine Sozialhilfeleistungen, so dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung (etwa 25 %) unter der Armutsgrenze leben muss und auf Unterstützungsleistungen humanitärer Organisationen oder im Ausland lebender Verwandter angewiesen ist (vgl. VG Braunschweig v. 07.04.2010, Az: 8 A 29/08). Die Klägerin kann nach Überzeugung des Gerichts aufgrund der konkreten Angaben zu den finanziellen Möglichkeiten ihrer Mutter und Schwester sowie ihres Bruders nicht damit rechnen, dass sie von diesen finanziell unterstützt wird. Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin sind die 82-jährige Mutter der Klägerin und ihre Schwester krank und nicht in der Lage, sie finanziell zu unterstützen. Der ebenfalls in Armenien lebende Bruder der Klägerin hat nach ihren Angaben eigene Kinder, denen er das Studium bezahlt und insofern keine finanziellen Möglichkeiten zur Unterstützung der Klägerin. An der Wahrheit dieser Aussagen zu zweifeln, sieht das Gericht keinen Anlass. Insgesamt geht das Gericht daher, auch unter Berücksichtigung des in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin persönlich gewonnenen Eindrucks, davon aus, dass diese bei einer Rückkehr nach Armenien einer konkreten Lebensgefahr ausgesetzt wäre, da sie aufgrund psychischer Labilität, fehlender Unterstützungsmöglichkeiten durch Verwandte und der fehlenden Möglichkeit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit ihren Lebensunterhalt nicht selbst sichern könnte. Dass es der Klägerin in ihrem gesundheitiich beeinträchtigten Zustand bei einer alleinigen Rückkehr nach Armenien innerhalb kürzester Zeit möglich sein sollte, sich mit Hilfe der Unterstützung durch humanitäre Organisationen eine komplett neue Existenzgrundlage zu schaffen, ist im Sinne des dargestellten Abwägungsmaßstabs des BVerwG (v. 18.7.2001, a.a.O.) nicht wahrscheinlicher als der Eintritt einer konkreten Lebensgefahr.

Die Beklagte war daher zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu verpflichten und der Bescheid vom 10. Februar 2010 aufzuheben, soweit dieser dem entgegensteht. [...]