OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 30.09.2010 - 3 B 52/10 - asyl.net: M17959
https://www.asyl.net/rsdb/M17959
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz, um zu klären, ob - wie von einem Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung vertreten - der Nachweis von Deutschkenntnissen für den Familiennachzug auch nach der (letzten) Einreise erbracht werden kann. Es wird ferner zu prüfen sein, ob der Antragsteller hinsichtlich falscher oder unvollständiger Angaben im Visumsantrag ausreichend belehrt worden ist (§ 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Einwanderungsgesichtspunkte, insbesondere das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Visumsverfahrens, stehen dem von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Interesse des Antragstellers an der Aufrechterhaltung der Familieneinheit sowie seinem Interesse, vor den mit einer Ausreise einhergehenden Belastungen verschont zu bleiben, nicht entgegen.

Schlagwörter: Heirat in Dänemark, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Deutschkenntnisse, Visumsverfahren, Visumspflicht, Familieneinheit, Schutz von Ehe und Familie, Zumutbarkeit, Ausweisungsgrund, Hinweispflicht
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 5, AufenthG § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, AufenthV § 39 Nr. 3, AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 1a
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Aus den dargelegten Beschwerdegründen, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 156 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich zwar bei der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Rechtslage nicht mit hinreichender Gewissheit, dass der vom Antragsteller begehrte Aufenthaltstitel von der Antragsgegnerin rechtsfehlerhaft abgelehnt worden ist. Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung ist aber abzuändern, da die in diesem Fall vorzunehmende Interessenabwägung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu Gunsten des von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Interesses des Antragstellers an der Aufrechterhaltung der Familieneinheit ausgeht.

Das Verwaltungsgericht Leipzig hat den - nach zwischenzeitlichem Erlass des Widerspruchsbescheids nunmehr auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.2.2010 gerichteten - einstweiligen Rechtsschutzantrag abgelehnt, weil dieser zum damaligen Zeitpunkt noch nicht die Erteilungsvoraussetzung der Verständigung in deutscher Sprache auf einfache Art (§ 28 Abs. 1 Satz 5, § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) nachgewiesen hatte und er auch nicht mit dem für den begehrten Aufenthalt erforderlichen Visum eingereist war und die für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis maßgeblichen Angaben nicht bereits im Visumantrag gemacht hatte (§ 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Nach Auffassung des Gerichts war der Antragsteller von letzterer Voraussetzung auch nicht gemäß § 39 Nr. 3 2. Alt. AufenthV befreit, weil mit der vor der letzten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland in Dänemark geschlossenen Ehe nicht dessen Tatbestandsvoraussetzung der Anspruchsentstehung nach der Einreise erfüllt worden sei. Auch sei die Antragsgegnerin zu Recht davon ausgegangen, dass von der Durchführung eines Visumverfahrens nicht gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. AufenthG abgesehen werden könne, da es dem Antragsteller zumutbar sei, das Visumsverfahren nachzuholen. [...]

Allerdings kann im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht geklärt werden, ob es mit einem Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung für den Verzicht auf eine Nachholung des Visumverfahrens gemäß § 39 Nr. 3 2. Alt. AufenthV für ausreichend zu erachten ist, dass die für das Entstehen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erforderliche Voraussetzung des Nachweises hinreichender Deutschkenntnisse i.S.v. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nach der (letzten) Einreise in die Bundesrepublik Deutschland entstanden ist, oder ob die Deutschkenntnisse - wie von der Antragsgegnerin vorgetragen - bereits vor dem Zuzug nach Deutschland bei Erteilung des Visums zum Ehegattennachzug nachgewiesen werden müssen (vgl. hierzu jüngst OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.3.2010 - 13 ME 3/10 -, und BayVGH, Beschl. v. 12.1.2010 - 10 CS 09.2705 -; a. A. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 8.7.2008 - 11 S 1041/08 -, jeweils zitiert nach juris, sowie Singer, InfAuslR 2010, 231). Würde die Frage im Sinne des Antragstellers beantwortet werden müssen, hätte er mit dem vorbezeichneten Sprachennachweis diese Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erst nach der letzten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erfüllen können. Das Verwaltungsgericht Leipzig wird sich in dem bei ihm anhängigen Klageverfahren mit dieser Frage genauso auseinanderzusetzen haben wie mit der vorliegend ebenfalls nicht zu klärenden Frage, ob der Antragsteller einen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG regelmäßig entgegenstehenden Ausweisungsgrund gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG erfüllt, weil er falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines Schengen-Visums gemacht hatte, was angesichts der tatsächlichen Umstände der Einreise und der kurz danach geschlossenen Ehe durchaus naheliegend ist; in diesem Zusammenhang wird sich das Gericht insbesondere auch mit der von der vormaligen Prozessbevollmächtigten des Antragstellers aufgeworfenen Frage zu beschäftigen haben, ob dieser i.S.v. § 55 Abs. 2 Nr. 1 a.E. AufenthG ausreichend belehrt worden ist.

2. Die bei in diesem Sinne offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache vorzunehmende Abwägung der gegenseitigen Interessen führt zum Erfolg der Beschwerde.

Einwanderungsgesichtspunkte, insbesondere das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Visumverfahrens (vgl. hierzu OVG NRW, Beschl. v. 5.10.2006, InfAuslR 2007, 56), stehen dem von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Interesse des Antragstellers an der Aufrechterhaltung der Familieneinheit sowie seinem Interesse, vor den mit einer Ausreise einhergehenden belastenden Umständen verschont zu werden, nicht entgegen. Denn zum einen ist gerade offen und in der Hauptsache unter Prüfung der oben aufgeworfenen Fragen zu klären, ob solche Gesichtspunkte hier überhaupt eine Rolle spielen, da der Gesetzgeber durch § 39 Nr. 3 AufenthV möglicherweise zu erkennen gegeben hat, dass in einem Fall wie dem vorliegenden solche Belange ausnahmsweise keine Rolle spielen. Zum anderen würden mit einer Ausreise des Antragstellers und seiner Verpflichtung, das Visumsverfahren nachzuholen, vollendete Tatsachen geschaffen, die auch dann, wenn sich im weiteren Verfahren herausstellen sollte, dass § 39 Nr. 3 AufenthV hier Anwendung findet, nicht rückgängig gemacht werden könnten. Zwar dürfte - wie auch das Verwaltungsgericht Leipzig zu Recht festgestellt hat - angesichts der kurzen Zeitdauer der Ehe und der Tatsache, dass über die typischerweise zu erwartenden belastenden Umstände bei der Ausreise hinaus keine besonderen Belastungen im Einzelfall vorgetragen oder ersichtlich sind, eine kürzere Unterbrechung der familiären Lebensgemeinschaft nicht von vornherein und in jedem Fall unzumutbar sein; auch sprechen bei Beachtung des Hinweises der vormaligen Prozessbevollmächtigten des Antragstellers mit Schriftsatz vom 7.8.2009 gegenüber der Antragsgegnerin, der Antragsteller habe seine Ehefrau bereits seit geraumer Zeit gekannt, sowie aufgrund der äußeren Umstände, wie sie sich aus der Behördenakte ergeben, viele Indizien dafür, dass die Heirat bereits bei Beantragung des für einen touristischen Zweck erteilten Schengen-Visums beabsichtigt war. Andererseits gibt es bislang keine stichhaltigen Belege dafür, dass eine Scheinehe i.S.v. § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG vorliegt. Unter Abwägung dieser Umstände gelangt der Senat daher zu der Überzeugung, dass dem Interesse des Antragstellers hier der Vorzug einzuräumen ist. [...]