OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 28.09.2010 - 3 B 412/09 - asyl.net: M17960
https://www.asyl.net/rsdb/M17960
Leitsatz:

Eilrechtsschutz zum Schutz der Vater-Kind-Beziehung.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Duldung, Eltern-Kind-Verhältnis, Schutz von Ehe und Familie, Kindeswohl, Umgangsrecht
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Gemessen daran geht der Senat entgegen dem Verwaltungsgericht und nach derzeitiger Aktenlage davon aus, dass der Antragsteller voraussichtlich einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG besitzt. Seine Abschiebung dürfte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus rechtlichen Gründen unmöglich sein, weil bei einer Abschiebung die familiären Bindungen des Antragstellers an seine im Bundesgebiet lebende Tochter entgegen der in Art 6 Abs. 1, Abs. 2 GG enthaltenen Grundsatznorm nicht angemessen berücksichtigt werden. Ob dem Antragsteller darüber hinaus eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden muss oder kann oder ihm eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu erteilen ist, was im Hinblick auf § 10 Abs. 3 AufenthG zweifelhaft ist, bedarf im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keiner Klärung.

Die in Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Falles (BVerfG, Beschl. v. 23.01.2006, NVwZ 2006, 682; SächsOVG, Beschl. v. 20.9.2010 - 3 B 440/09 -).

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil - wie hier - das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner deutschen Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfG, a.a.O.).

Dabei ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange der Eltern und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 20.02.2003, BVerwGE 117, 380). Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, dessen Entwicklung schnell voranschreitet und das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.1.2006, a.a.O.; Beschl. v. 9.1.2009, NVwZ 2009, 387). Anders als bei älteren Kindern stehen jüngeren Kindern keine Möglichkeiten offen, den Kontakt zu der Bezugsperson anderweitig, etwa brieflich oder telefonisch, weiter aufrecht zu erhalten, so dass bei jüngeren Kindern wie der Tochter des Antragstellers selbst eine verhältnismäßig kurze Zeit der Trennung mit Blick auf Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG schon unzumutbar lang sein kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.8.1999, NVwZ 2000, 59).

Der Senat geht nach Aktenlage zugunsten des Antragstellers davon aus, dass er zu seiner Tochter nicht nur eine formelle Vaterschaftsbeziehung wegen der am 20.6.2006 abgegebenen Sorgerechtserklärung unterhält, sondern aufgrund der vor dem Amtsgericht Mühlhausen (1 F 91/09 und 1 F 6060/09) im August 2009 bzw. im Januar 2010 im Wege des Vergleichs getroffenen Umgangsregelung tatsächlich eine Vater-Kind-Beziehung zu seiner Tochter pflegt. [...]

Es bedarf deshalb hier keiner weiteren Aufklärung, ob auch eine tatsächlich gelebte Vater-Kind-Beziehung zwischen dem Antragsteller und dem Kind besteht, dessen Geburt für den 21.12.2009 berechnet war und für das er eine vorgeburtliche Vaterschaftsanerkennung abgegeben hat. Denn selbst wenn eine Vater-Kind-Beziehung insoweit nicht bestehen würde, dürfte der Antragsteller allein wegen seiner Tochter einen Duldungsanspruch haben.

Es bestehen weiter auch keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe dem Interesse des Antragstellers und seiner Tochter am Verbleib des Antragstellers im Inland entgegenstehen. Allerdings bewahrt die Existenz eines deutschen Kindes den ausländischen Elternteil unter Bezugnahme auf Art. 6 GG nicht in jedem Fall vor einer Ausweisung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.8.2000 - 2 BvR 1363/00 -, zitiert nach juris). Dies gilt bei Ausweisungsgründen wegen erheblicher Straffälligkeit vor allem für sicherheitsrechtliche Belange, weil die Pflicht des Staates, seine Bürger vor Gewalt-, Vermögens- oder Betäubungsmitteldelikten zu schützen, gleichfalls verfassungsrechtlichen Rang besitzt und in Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG wurzelt. Es besteht ein erhebliches öffentliches Interesse an einer wenigstens vorübergehenden Ausreise eines Ausländers, der während seines Aufenthalts in Deutschland in erheblichem Umfang straffällig geworden und bei dem zu befürchten ist, dass er weitere Straftaten begehen wird (vgl. dazu etwa BVerfG, Beschl. v. 23.1.2006, a.a.O.). Dem Senat liegen derzeit keine Erkenntnisse dafür vor, dass hier eine solche Situation wegen der vom Antragsteller offenbar in der Vergangenheit begangenen Tätlichkeiten gegen die Mutter seiner Kinder und deren weitere Kinder vorliegt. Selbst wenn in diesem Zusammenhang der Antragsteller vom Amtsgericht Mühlhausen (am 28.7.2007; - 205 JS 51558/06 -) wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt worden sein sollte, dürfte hier angesichts des aktuellen Verhaltens des Antragstellers, insbesondere der Wahrnehmung des Umgangsrechts mit seiner Tochter, kein erhebliches öffentliches Interesse an einer Ausreise des Antragstellers bestehen, das seinen familiären Interessen entgegensteht.

Einer Entscheidung über den für das Beschwerdeverfahren gestellten Prozesskostenhilfeantrag bedarf es infolge des Obsiegens des Antragstellers nicht. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG, wobei der Auffangstreitwert im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß Nr. 1.5 Streitwertkatalog 2004 (veröffentl. in NVwZ 2004, 1327), zu halbieren war. [...]