VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.11.2010 - 11 S 1089/10 - asyl.net: M17969
https://www.asyl.net/rsdb/M17969
Leitsatz:

Ausreise im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG ist nur die freiwillige Ausreise aufgrund eigenen Willensentschlusses; eine Auslieferung erfüllt das Tatbestandsmerkmal nicht (entgegen Bayerischer VGH, Urteil vom 10.01.2007 - 24 BV 03.722 - juris).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Auslieferung, Ausreise, Erlöschen, Erlöschen der Niederlassungserlaubnis, Niederlassungserlaubnis, freiwillige Ausreise, Freiwilligkeit, Untersuchungshaft, Inhaftierung, Strafverfahren,
Normen: AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 7, AufenthG § 51 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 51 Abs. 2 S. 3,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig. Zwischen dem Kläger und der Beklagten ist streitig, ob die dem Kläger am 25.07.2002 von der Beklagten erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die nach § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgilt, infolge Ausreise kraft Gesetzes erloschen ist. Ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis liegt insoweit vor (vgl. zu einer vergleichbaren Konstellation etwa BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 1 C 8.89 - juris). Der Kläger will nach Deutschland zurückkehren und sich hier aufhalten und hat ein schutzwürdiges Feststellungsinteresse im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO. Ist die von der Beklagten erteilte Niederlassungserlaubnis nicht erloschen, bedarf der Kläger zur Wiedereinreise in das Bundesgebiet keines Visums (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 3 AufenthG). Soweit im Hinblick auf die Bescheinigung nach § 51 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ohne Durchführung eines Vorverfahrens eine allgemeine Leistungsklage erhoben wurde, ist diese ebenfalls zulässig, da es sich bei der Bescheinigung zum Nachweis des Fortbestands einer Niederlassungserlaubnis mangels eigenständigen Regelungsgehalts nicht um einen Verwaltungsakt gemäß § 35 Satz 1 LVwVfG, sondern lediglich um eine zur Beweiserleichterung erteilte, formlose Bescheinigung ohne konstitutiven Charakter handelt (a.A. Schäfer, in GK-AufenthG § 51 Rn. 90).

1) Die erstrebte Feststellung ist zu treffen. Die als Niederlassungserlaubnis fortgeltende unbefristete Aufenthaltserlaubnis ist nicht infolge Ausreise des Klägers aus dem Bundesgebiet erloschen.

Nachdem der Kläger das Bundesgebiet zum Zwecke der Durchführung eines Strafverfahrens und damit aus einem seiner Natur nach grundsätzlich nur vorübergehenden Grund verlassen musste, kommt § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG, wonach der Aufenthaltstitel erlischt, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausreist, ungeachtet der nicht konkret vorhersehbaren Dauer des Auslandsaufenthalts nicht zur Anwendung.

Soweit nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG der Aufenthaltstitel erlischt, wenn der Ausländer ausgereist und nicht innerhalb von sechs Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereist ist, liegen die hierfür erforderlichen Tatbestandsvoraussetzungen nicht vor. Der Kläger, der zur Durchführung eines Strafverfahrens zwangsweise an die niederländischen Behörden überstellt wurde, ist im Sinne dieser Norm nicht ausgereist.

Zwar hat der Kläger bereits am 03.11.2005 das Bundesgebiet verlassen und ist bis heute nicht wieder eingereist. Unter den Begriff der Ausreise im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG fällt jedoch nicht die Auslieferung. Ein Ausländer, der nicht aufgrund eigenen Willensentschlusses freiwillig das Bundesgebiet verlässt, sondern ausgeliefert wird, erfüllt das Tatbestandsmerkmal der Ausreise nicht (a.A. Bayerischer VGH, Urteil vom 10.01.2007 - 24 BV 03.722 - juris; Schäfer, in GK-AufenthG, § 51 Rn. 62; Hailbronner, AuslR, § 51 Rn. 20 m.w.N.; unklar BVerwG, Beschluss vom 15.04.1998 - 1 B 6.98 - juris).

Der Beklagten ist darin zuzustimmen, dass der im Aufenthaltsrecht vielfach verwendete Begriff der Ausreise nach dem Willen des Gesetzgebers nicht in jedem Fall eine Freiwilligkeit voraussetzt; vielmehr entfaltet nach dem System des Aufenthaltsgesetzes je nach Regelungszusammenhang ggf. auch die zwangsweise Aufenthaltsbeendigung die Wirkungen einer Ausreise (vgl. hierzu § 11 Abs. 1 Sätze 1 und 4 AufenthG; s.a. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG zur "Ausreise" <Abschiebung> eines in Haft befindlichen Ausländers; vgl. zum umfassenden Begriff der Ausreise in § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG: BT-Drs. 15/420, 79; zu § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG auch BVerwG, Urteil vom 27.06.2006 - 1 C 14.05 - BVerwGE 126, 192). Die vorgenannten Fallkonstellationen unterscheiden sich jedoch grundsätzlich von der hier zu entscheidenden Frage, ob die erzwungene "Ausreise" einen Aufenthaltstitel nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG zum Erlöschen bringen kann. Tatsächlich entscheidungserheblich wird diese Frage - abgesehen von etwaigen, strafrechtlich relevanten Entführungsfällen - nur im Fall der Auslieferung, denn ein Erlöschen des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 oder 7 AufenthG infolge Abschiebung scheidet schon deshalb aus, weil es den im Raum stehenden Erlöschenstatbeständen immanent ist, dass ein rechtmäßiger Aufenthalt vorliegt und eine Abschiebung daher nicht in Betracht kommt.

Die Erlöschenstatbestände des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7 AufenthG setzen bereits nach dem natürlichen Wortverständnis des Begriffs des "Reisens" voraus, dass es der Ausländer in der Hand hat, ob er durch seine freiwillige Ausreise die Ursache dafür schafft, dass in der Folge sein Aufenthaltstitel aufgrund Abwesenheit vom Bundesgebiet erlischt. Nur und erst in diesem Fall hat er in der Folgezeit auch den Zeitablauf unter Kontrolle zu halten und zu entscheiden, ob ggf. eine Fristverlängerung zu beantragen ist, weil etwa unvorhergesehene Rückkehrhindernisse aufgetreten sind. Der vorliegende Fall, in dem der Kläger nach der erzwungenen Auslieferung von dem gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Tatvorwurf freigesprochen worden ist, macht in besonderem Maße deutlich, dass der betroffene Ausländer nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf. Die zwangsweise Auslieferung zur Durchführung des Strafverfahrens und die vom Kläger nicht beeinflussbare Dauer des Strafverfahrens in den Niederlanden rechtfertigen für sich genommen nicht den Verlust der Niederlassungserlaubnis. Die Zusammenschau der Erlöschenstatbestände mit den Privilegierungen des § 51 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AufenthG und den Wiederkehrrechten nach § 37 Abs. 1 und 5 AufenthG verdeutlicht vielmehr, dass Ausgangspunkt der Erlöschensregelungen nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG die freie Willensentschließung des Ausländers zur Ausreise ist (vgl. zu den Voraussetzungen eines Rechts auf Wiederkehr nach § 37 Abs. 5 AufenthG, mit dem das Erlöschen eines Aufenthaltstitels infolge einer Ausreise kompensiert werden soll, die auf freier Disposition des Ausländers beruht: BVerwG, Urteil vom 06.03.2008 - 1 C 16.06 - BVerwGE 130, 284). Die Regelungen in § 11 Abs. 1 Sätze 1 und 4 AufenthG sowie § 25 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 Satz 1 AufenthG, die von einem umfassenden Begriff der Ausreise ausgehen, unterscheiden sich hiervon grundlegend. Die vorgenannten Bestimmungen betreffen die Konstellation des ausreisepflichtigen Ausländers und befassen sich vor diesem Hintergrund mit den Rechtsfolgen einer auch zwangsweisen Ausreise (Abschiebung) bzw. der Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei bestehenden Abschiebungshindernissen. Demgegenüber knüpfen § 51 Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7 AufenthG daran an, dass ein Aufenthaltstitel besteht, der aufgrund freier Willensentschließung des Ausländers aufgrund Abwesenheit vom Bundesgebiet erlöschen kann.

Zwar enthält die Regelung des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG kein subjektives Element, d. h. es ist unerheblich, warum der Ausländer ausgereist und nicht wieder eingereist ist. Die Fristüberschreitung führt grundsätzlich immer zum Erlöschen des Aufenthaltstitels; auf ein etwaiges Verschulden des Ausländers kommt es nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 08.05.2008 - 18 A 2542/06 - juris und vom 04.08.2004 - 18 B 2264/03 - InfAuslR 2004, 439). Vor diesem Hintergrund sind auch erzwungene Rückkehrhindernisse, wie etwa eine Haft, für den Fristlauf relevant. Damit ist aber nichts darüber gesagt, wann eine Ausreise vorliegt, die überhaupt erst den Erlöschenstatbestand eröffnet. Allein die erhebliche Länge des Auslandsaufenthalts des Klägers genügt für sich genommen nicht, das Erlöschen der Niederlassungserlaubnis herbei zu führen. Soweit unbeabsichtigten Härten, die im Zusammenhang mit dem Erlöschenstatbestand des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG entstehen können, im Einzelfall durch die Möglichkeit der Fristverlängerung, durch die der gesetzliche Erlöschenszeitpunkt hinausgeschoben wird, begegnet werden kann (vgl. zur Vorgängerbestimmung des § 44 AuslG: BT-Drs. 11/6321, 71), trifft dies nicht den vorliegenden Fall, in dem es bereits am notwendigen Ausreisewillen fehlt und es für den von Auslieferung und Strafverfahren betroffenen Ausländer keinen Anlass gibt, einen Fristverlängerungsantrag "ins Blaue hinein" zu stellen. Dass es im Zusammenhang mit den Erlöschenstatbeständen und der Frage der Fristverlängerung auf die Willensfreiheit des Ausländers ankommt, verdeutlicht nicht zuletzt auch die Bestimmung des § 51 Abs. 4 AufenthG, wonach ein Regelanspruch auf Befristung besteht, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach vorübergehenden Grund ausreisen will und - wie hier - eine Niederlassungserlaubnis besitzt oder wenn der Aufenthalt außerhalb des Bundesgebiets Interessen der Bundesrepublik Deutschland dient.

2) Ein Anspruch des Klägers auf Ausstellung einer Bescheinigung zum Nachweis des Fortbestandes der Niederlassungserlaubnis gemäß § 51 Abs. 2 Satz 3 AufenthG besteht hingegen nicht, denn es liegt entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts kein Anwendungsfall des § 51 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vor.

Nach § 51 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erlischt die Niederlassungserlaubnis eines mit einem Deutschen in ehelicher Lebensgemeinschaft lebenden Ausländers nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG, wenn kein Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 bis 7 oder § 55 Abs. 2 Nr. 8 bis 11 AufenthG vorliegt. Mit der Privilegierung trägt der Gesetzgeber seiner aus Art. 6 Abs. 1 GG folgenden Schutzpflicht Rechnung. Die in diesem Falle auszustellende Bescheinigung nach § 51 Abs. 2 Satz 3 AufenthG dient dem Nachweis der besonderen Rechtsposition und erleichtert dem privilegierten Ausländer die beliebig häufige, auch längerfristige Aus- und Wiedereinreise (vgl. zur Vorgängerbestimmung in § 44 AuslG 1990: BT-Drs. 13/4948, 8).

Im hier zu entscheidenden Fall fehlt es mangels Ausreise bereits am Vorliegen eines Erlöschenstatbestandes nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 oder 7 AufenthG. Damit greift auch der Privilegierungstatbestand ungeachtet der Frage, ob § 51 Abs. 2 Satz 2 AufenthG voraussetzt, dass die eheliche Lebensgemeinschaft noch zum Zeitpunkt der Wiedereinreise des Ausländers besteht oder ob es genügt, dass die eheliche Lebensgemeinschaft zum Zeitpunkt der Ausreise bzw. dem Ablauf der Sechsmonatsfrist nach der Ausreise (regelmäßiger Erlöschenszeitpunkt) besteht, nicht ein. Das aber wäre Voraussetzung für die Erteilung einer entsprechenden Bescheinigung. Der Kläger besitzt unabhängig vom Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft unverändert eine Niederlassungserlaubnis, die ihn zur beabsichtigten Wiedereinreise in das Bundesgebiet berechtigt. Das Feststellungsurteil ermöglicht ihm, seine Wiedereinreise gegenüber den zuständigen Behörden zu betreiben. Einer weitergehenden Bescheinigung bedarf es insoweit nicht. Was die gänzlich unbestimmte Frage der Rechtsfolgen etwaiger künftiger Aus- und Wiedereinreisen des Klägers anbelangt, besteht derzeit kein konkreter Klärungsbedarf.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Das Unterliegen des Klägers ist lediglich geringfügig, so dass insoweit keine Kostentragungspflicht besteht. Streitgegenständlich ist die Frage des Fortbestehens der Niederlassungserlaubnis; die Ausstellung einer entsprechenden Bescheinigung hat demgegenüber keine selbständige wirtschaftliche Bedeutung. [...]