1. Da die Stellung eines Wiedereinbürgerungsantrags möglich ist, sind Abschiebungsverbote hinsichtlich der Türkei zu prüfen.
2. Keine Verfolgungsgefahr wegen Blutrache, da der türkische Staat willens und in der Lage ist, gegen kriminelle Übergriffe durch Dritte einzuschreiten.
3. Mangels nachgewiesener Referenzfälle zur Verfolgung von Yeziden seitens der muslimischen Bevölkerung in der Türkei lässt sich eine mittelbare regionale Gruppenverfolgung nach Art. 16a Abs. 1 GG bzw. eine nichtstaatliche regionale Gruppenverfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG inzwischen nicht mehr bejahen.
[...]
Bei der Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG sind zunächst § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG im Hinblick auf das Herkunftsland des Antragstellers zu prüfen. Diese bilden als Umsetzungsnormen der Regelungen der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (QualfRL) zum subsidiären Schutz einen eigenständigen, vorrangig zu prüfenden Verfahrensgegenstand (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 u.a.). Sie werden im Folgenden als "europarechtliche Abschiebungsverbote" bezeichnet.
Auch bei Staatenlosen, die auf absehbare Zeit nicht in das Land ihres früheren gewöhnlichen Aufenthalts zurückkehren können, hat grundsätzlich eine inhaltliche Prüfung des Anspruchs auf subsidiären Schutzes zu erfolgen. [...]
Gemäß Artikel 43 des neuen türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 29.05.2009 können Personen, die unter anderem wegen Wehrdienstentziehung nach Art. 25 des aufgehobenen Staatsangehörigkeitsgesetzes die türkische Staatsangehörigkeit verloren haben, per Ministerratsbeschluss und unter der Voraussetzung, dass aus Sicht der nationalen Sicherheit keine Bedenken bestehen, und ohne dass eine Aufenthaltsvoraussetzung zu erfüllen ist, wieder eingebürgert werden, wenn sie einen Antrag stellen. Gemäß dem am 13.02.2009 in Kraft getretenen Änderungsgesetz zum Militärgesetz wird die Bearbeitung von Wehrdienstformalitäten bei ehemals Ausgebürgerten, die die türkische Staatsangehörigkeit wiedererlangt haben, mit dem Stand vor der Ausbürgerung fortgesetzt. Für den Betroffenen bedeutet das, dass er durch die Wehrdienstentziehung bzw. den Verlust der Staatsangehörigkeit keine Nachteile zu erwarten hat (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 01.12.2009, 508-516.80/46217; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Februar 2010 vom 11.04.2010, Gz: 508-516.80/3 TUR).
Vorliegend ist daher davon auszugehen, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Wiedereinbürgerung in der Türkei hat. Somit sind Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu prüfen. [...]
Soweit vorliegend die Gefahr von Blutrache geltend gemacht wird, ist festzustellen, dass Straftaten, die in den Bereich der Blutrache fallen, gemäß dem türkischen Strafgesetzbuch mit lebenslanger Haftstrafe bedroht sind. Der türkische Staat ist willens und in der Lage, gegen kriminelle Übergriffe durch Dritte einzuschreiten und die Betroffenen zu schützen. Der türkische Staat ahndet Blutrachetaten hart und unabhängig von der Volkszugehörigkeit der betroffenen Familien, weil die Blutrache den staatlichen Interessen wegen des Verstoßes gegen das staatliche Straf- und Gewaltmonopol zuwiderläuft (vgl. u.a.Auskünfte der Deutschen Botschaft an das Bundesamt vom 21. September 2005 und des Auswärtigen Amtes an das VG Schleswig vom 17. Juli 2002 sowie VG Aachen, Urteil vom 23. Oktober 2006 - 6 K 2348/05.A - sowie Urteil des VG Braunschweig vom 29.08.2007, Az. 5 A 117/07).
Damit kann sich der Antragsteller nicht mit Erfolg auf ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG berufen.
Auch die geltend gemachte yezidische Religionszugehörigkeit begründet kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG.
Yeziden (Yezidi, Jesiden) sind Angehörige einer synkretistischen orientalischen Religion, deren Träger ethnische Kurden sind. Der Yezidizismus ist ein Monotheismus mit uralten mythologisch-kosmologischen Vorstellungen, in denen auch der "Engel Pfau" (Taus-i Melek) eine wichtige Rolle spielt. Engere Glaubensbeziehungen scheinen zum Zarathustrismus zu bestehen, Beziehungen zu Islam und Christentum sind vage und rein äußerlich.
Yezide ist nach den maßgeblichen Regeln des yezidischen Glaubens nur, wer diese Religionszugehörigkeit durch Abstammung von yezidischen Eltern erworben hat; Geburts- und/oder Wohnort (Yezidendorf) sind ein bedeutsames Erkenntnismittel (vgl. OVG Münster, Urteil vom 10.09.2003, Az.: 8 A 64/03.A). Er darf sie zudem nicht durch unwiderrufliche Abwendung von diesem Glauben oder die Verletzung grundlegender Regeln verloren haben (vgl. OVG Münster, Urteil 24.11.2000, Az.: 8 A 4/99.A; OVG Lüneburg, Urteil vom 28.10.1999).
Glaubensgebundenheit als Yezide setzt in der Regel das Bewusstsein voraus, in der hierarchischen Struktur der yezidischen Gesellschaft einen festen Platz innezuhaben sowie zumindest die Grundlagen dieses Glaubens zu kennen und zu praktizieren. Hierbei kann jedoch kein für alle Yeziden gleichermaßen gültiges "Mindestwissen" verlangt werden, entscheidend ist vielmehr die Gesamtbewertung im Einzelfall.
Türkische Staatsangehörige yezidischen Glaubens, die ihren Glauben praktizieren, unterlagen nach vorhergehenden Erkenntnissen (vgl. z.B. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 12.08.2003, Az.: 508-516.80/3 TUR; Baris Azad, Gutachten vom 13.07.2000 an das OVG Lüneburg; Kulturforum der yezidischen Glaubensgemeinschaft, Gutachten vom 01.06.2000), die sich zu einem geringen Teil noch in der obergerichtlichen Rechtsprechung spiegeln, seit etwa 1990 in ihren angestammten Siedlungsgebieten in der Südosttürkei einer mittelbaren regionalen Gruppenverfolgung seitens der muslimischen Bevölkerungsmehrheit, zumutbare Fluchtalternativen fehlten (vgl. z.B. OVG Münster, Urteil vom 10.09.2003, Az.: 8 A 64/03.A; OVG Bremen, Urteil vom 11.09.1997, Az.: 2 B 149/97).
Mangels nachgewiesener aktueller Referenzfälle zur Verfolgung von Yeziden seitens der muslimischen Bevölkerung lässt sich eine mittelbare regionale Gruppenverfolgung nach Art. 16a Abs. 1 GG bzw. eine nichtstaatliche regionale Gruppenverfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG inzwischen nicht mehr bejahen (vgl. OVG Saarlouis, Urteil vom 11.03.2010, Az.: 2 A 401/08; OVG Magdeburg, Urteil vom 26.10.2007, Az.: 3 L 380/04; OVG Münster, Urteil vom 27.08.2007, Az.: 15 A 4224/02.A, Urteil vom 14.02.2006, Az.: 15 A 2119/02.A; OVG Lüneburg, Urteil vom 17.07.2007, Az.: 11 LB 332/03; OVG Schleswig, Urteile vom 29.09.2005, Az.: 1 LB 38/04, 1 LB 39/04, 1 LB 40/04 u. 1 LB 41/04; VG Minden, Urteil vom 22.02.2008, Az.: 8 K 520/07.A; VG Osnabrück, Urteil vom 01.10.2007, Az.: 5 A 164/07; VG Weimar Urteil vom 04.05.2006 - 2 K 20543/03.We). Dem Auswärtigen Amt sind aus der jüngsten Vergangenheit keine Fälle von an die Religion anknüpfenden Rechtsgutverletzungen bekannt geworden, in denen der türkische Staat den Betroffenen keinen Schutz gewährt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 11.04.2010, Az.: 508-516.80/3 TUR). Auch wenn es vereinzelt Übergriffe auf zurückkehrende Yeziden geben soll, sind solche Einzelfälle weder für sich allein noch bei Gesamtbetrachtung ausreichende Anzeichen für eine erneute mittelbare Gruppenverfolgung. Im Einzelfall ist jedoch eine Individualverfolgung nicht ausgeschlossen.
Dafür sind vorliegend jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte vorgetragen worden, noch liegen dem Bundesamt Erkenntnisse vor. [...]