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VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Beschluss vom 29.11.2010 - W 1 S 10.30287 - asyl.net: M17989
https://www.asyl.net/rsdb/M17989
Leitsatz:

Keine asylrelevante Verfolgungsgefahr wegen drohender Blutrache im Kosovo, da hiergegen die Hilfe der örtlichen Sicherheitskräfte in Anspruch genommen werden kann. Es steht ansonsten auch eine inländische Fluchtalternative offen.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot, Dublin II-VO, Ungarn, Österreich, Kosovo, Kosovo-Albaner, offensichtlich unbegründet, Ehrverletzung, Blutrache, vorläufiger Rechtsschutz, nichtstaatliche Verfolgung, politische Verfolgung, interner Schutz, interne Fluchtalternative
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 36 Abs. 4, AsylVfG § 36 Abs. 3
Auszüge:

[...]

5. Ebenso wenig bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Antragsgegnerin hinsichtlich § 60 Abs. 1 AufenthG. Der Antragsteller hat im Falle seiner Rückkehr in den Kosovo offensichtlich keine asylrelevante Verfolgung i.S. des § 60 Abs. 1 AufenthG zu erwarten. Insoweit wird gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG auf die Begründung des angefochtenen Bescheides Bezug genommen. Weder bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt noch im Rahmen des vorliegenden Verfahrens lässt das Vorbringen des Antragstellers erkennen, dass er sein Heimatland aus begründeter Flucht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat bzw. solche Maßnahmen im Falle seiner Rückkehr zu befürchten hätte.

6. Unterstellt man die vom Antragsteller geschilderte Auseinandersetzung mit dem Nachbarn als wahr, so hat diese keinerlei politischen Hintergrund. Politische Verfolgung muss ausgehen von einem Träger überlegener - regelmäßiger, aber nicht notwendig hoheitlicher - Macht, der der Verletzte unterworfen ist (BVerfG 80, 315, 33 f.). Politische Verfolgung ist deshalb grundsätzlich staatliche Verfolgung. Eine solche macht der Antragsteller jedoch nicht geltend. Die vom Antragsteller geltend gemachte drohende Blutrache kann nicht in der Heimat des Antragstellers herrschenden Staatsmacht zugerechnet werden. Verfolgung durch Dritte ist der Staatsmacht dann zurechenbar, wenn diese dazu anregt oder die Verfolgung unterstützt (BVerfGE 54, 341, 358). Verfolgungen durch Dritte sind auch dann dem Herkunftsstaat zuzurechnen, wenn dieser mit den an sich zur Verfügung stehenden Kräften keinen Schutz gewährt (BVerfGE 80, 315, 336; 83, 216, 235). Der Vortrag des Antragstellers, es bestehe wenig Aussicht, offiziellen Schutz vor Übergriffen zu verlangen und zu erhalten, ist völlig unsubstantiiert. Darüber hinaus ist die Verfolgung erst dann eine politische, wenn sie wegen eines asylerheblichen Merkmals erfolgt. An solche, wie etwa die ethnische Zugehörigkeit, der politischen Überzeugung oder der religiösen Grundentscheidung knüpft die Blutrache aber nicht an. Sie ist schlichtweg eine archaische Reaktion auf erlittenes Unrecht (vgl. VG Frankfurt v. 11.11.2002, 12 G 4576/02.AO). [...]

8. Das Vorbringen des Antragstellers bei der Anhörung im Bundesamt rechtfertigt nicht die Annahme, dass ihm bei seiner Rückkehr die Gefahr der Blutrache droht. Im Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Bedeutung der Tradition im heutigen Kosovo vom 24. November 2004 ist Blutrache wie folgt definiert: "Blutrache ("Gjakmarrja") bedeutet, dass die Tötung eines Mannes zur Folge hat, dass ein männliches Familienmitglied des Opfers gegenüber dem Täter oder einem nahen männlichen Verwandten des Täters in gleicher Weise reagieren muss. Wesentlich für das Verständnis der Blutrache im gesamten albanisch besiedelten Gebiet ist die Bedeutung der Ehre. (...) Blutrache ist in diesen Vorstellungen nicht die Strafe für einen Mord, sondern Genugtuung für das vergossene Blut und damit auch Satisfaktion für die Beeinträchtigung der persönlichen Ehre und der Ehre der Familie oder Sippe, die eng mit der Vorstellung des Bluts verbunden sind. (...) Es geht darum, möglichst eine angesehene Person der gegnerischen Familie zu treffen, vor allem Brüder, Söhne oder den Vater, wenn nicht der Täter selbst getötet werden kann."

9. Legt man das Vorbringen des Antragstellers zugrunde, dass er den Nachbarn als Reaktion auf die Drohungen und Schläge gegenüber dem Vater geschlagen hat, so rechtfertigt dies nach der o.g. Definition bei Weitem nicht die Annahme einer drohenden Blutrache. Im Übrigen ist mit der insoweit überzeugenden Begründung des Bescheids des Bundesamts vom 26. Oktober 2010 davon auszugehen, dass es dem Antragsteller zum einen möglich ist, die Hilfe staatlicher Stellen in Anspruch zu nehmen und ihm zum anderen auch eine inländische Fluchtalternative offen steht. Dies zeigt insbesondere auch der Umstand, dass sich der Antragsteller nach den angeblichen Vorfällen bei seiner Tante im nahe gelegenen Ort ... aufgehalten hat. Weder hat man ihn bis zur Tante verfolgt, noch sei der übrigen Familie, insbesondere dem Vater, in dieser Zeit etwas geschehen. Legt man zugrunde, dass sich die Blutrache, wenn nicht der Täter selbst getötet werden kann, auch gegen einen nahen männlichen Verwandten richtet, insbesondere den Vater als angesehene Person der gegnerischen Familie, so zeigt der Umstand, dass in der Folgezeit der Auseinandersetzung keine weiteren "Vergeltungsschläge" durch den Nachbarn erfolgten, dass eine entsprechende Gefahr nicht droht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich - falls die behaupteten Auseinandersetzungen überhaupt stattgefunden haben - um rein kriminelles Unrecht handelt, für dessen strafrechtliche Verfolgung es dem Antragsteller möglich und zumutbar gewesen wäre, sich an die örtlichen Sicherheitskräfte zu wenden, die zumindest in ihren Grundstrukturen funktionsfähig sind. Des Weiteren könnte sich der Antragsteller als volljähriger Erwachsener auch in einem anderen Teil seines Heimatlandes niederlassen, um einer etwaigen Konfrontation aus dem Wege zu gehen. [...]