VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 29.11.2010 - 1 K 159/10.A - asyl.net: M17990
https://www.asyl.net/rsdb/M17990
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahr politischer Verfolgung, da der Kläger als kurdischer Oppositioneller in das Visier der Sicherheitskräfte geraten ist. Keine Flüchtlingsanerkennung der Ehefrau wegen Sippenhaft, da diese in Syrien im Allgemeinen nicht praktiziert wird. Lediglich in Einzelfällen, bei Familienangehörigen von Personen, die als gefährliche Oppositionelle oder Regimegegner eingestuft werden, kann die Gefahr einer Inhaftierung wegen Sippenhaft bestehen.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Syrien, politische Verfolgung, Kurden, Sippenhaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen bei dem Kläger zu 1. vor. Ihm droht bei Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung. Seit 1963 herrscht in Syrien Notstandsrecht. Die in der Verfassung garantierten Freiheitsrechte sind weitgehend aufgehoben. Berichte über Menschenrechtsverletzungen entsprechen den Tatsachen. Zur Verfolgung politischer Gegner bedienen sich die Geheimdienste der Inhaftierung, der anhaltenden Untersuchungshaft ohne Anklage oder Folter (vgl. dazu im Einzelnen den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010).

Der Kläger zu 1. muss bei einer Rückkehr nach Syrien damit rechnen, als kurdischer Oppositioneller verfolgt zu werden. Alle Kurden-Parteien haben eine Doppelnatur. Einerseits sind sie politische Parteien, die sich für die Rechte der Kurden auf Seiten dieser Volksgruppe engagieren. Insoweit sind sie verboten, wie alle anderen Parteien auch, die nicht der Nationalen Progressiven Front angehören. Andererseits sind sie aber auch sozial-organisatorisches Netz und Interessenvertretung der Kurden auf praktisch-alltäglicher Ebene. Insoweit arbeiten ihre Mitglieder teilweise sogar mit syrischen Behörden zusammen. Aus derartigen Aktivitäten ergibt sich keine konkrete Gefährdung. Aktivitäten werden dort in einem gewissen, freilich relativ bescheidenen Maße geduldet. "Rote Linie" ist jegliche öffentlichkeitswirksame, nach außen organisiert hervortretende Tätigkeit. Diese ist nicht unbedingt an die jeweilige Partei gebunden. Denn die in Syrien tätigen Kurden-Parteien haben letztlich keine unterschiedlichen Profile und weisen keine konzeptionellen Verschiedenheiten auf (vgl. dazu im Einzelnen die Stellungnahmen des Deutschen Orient-Instituts vom 20.12.2002 - 1307 ar/br - (S. 3 ff. m.w.N.) an das VG Aachen und vom 31.01.2005 für das VG Schleswig - 1629 al/br und 1628 al/br -).

Diese Grenze hat der Kläger zu 1. mindestens aus der Sicht der syrischen Behörden, auf die allein abzustellen ist, überschritten. In der Betriebsstätte des Klägers zu 1. wurden anlässlich einer Durchsuchung vom syrischen Geheimdienst ca. 1.000 Bilder gefunden, die getötete oder inhaftierte Kurden zeigten, und die als Protest gegen die syrische Kurdenpolitik an Wände geklebt werden sollten. Der Kläger zu. 1. geriet dadurch in das Visier der syrischen Sicherheitskräfte und war daher gezwungen, sein Heimatland zu verlassen. Bei einer Rückkehr nach Syrien werden es die syrischen Sicherheitskräfte nicht bei einer - wie sonst üblichen - intensiven Befragung bewenden lassen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Kläger zu 1. bei einer Rückkehr verhaftet wird mit den in Syrien üblichen Folgen. [...]

Aus dem Vorbringen des Klägers zu 1. ergibt sich, dass er in Syrien als Oppositioneller angesehen wird. Ihm droht bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung.

Auf eine eigene Vorverfolgung in Syrien, die zu einer Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG führen könnte, kann sich die Klägerin zu 2. demgegenüber nicht berufen. Sie hat selbst nicht geltend gemacht, in die Verfolgung ihres Ehemannes, des Klägers zu 1., mit einbezogen worden zu sein. Sie hat insoweit glaubhaft angegeben, die Werkstatt des Klägers zu 1. sowie ihr gemeinsames Wohnhaus seien von syrischen Sicherheitskräften durchsucht worden. Nach der Durchsuchung und Beschlagnahme von Gegenständen aus der Werkstatt habe man sie in ihrem Wohnhaus zurückgelassen. Außer dass bei ihr später noch nach dem Verbleib ihres Ehemannes gefragt worden sei, habe der syrische Geheimdienst sie in Ruhe gelassen. Ein besonderes Interesse der syrischen Sicherheitskräfte an der Klägerin zu 2. vermag die Kammer daher nicht zu erkennen.

Es spricht auch nichts dafür, dass die Klägerin zu 2. im Falle einer Rückkehr nach Syrien für Verfehlungen ihres Ehemannes, des Klägers zu 1., haftbar gemacht würde. Eine Sippenhaft wird in Syrien im Allgemeinen nicht praktiziert. Lediglich in Einzelfällen, bei Familienangehörigen von Personen, die als gefährliche Oppositionelle oder Regimegegner eingestuft werden, kann die Gefahr einer Inhaftierung nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden (so Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, Länderinformation Asyl, Teil II, Syrien, Sept. 2010, S. 8).

Der Ehemann der Klägerin zu 2., der Kläger zu 1., mag zwar vom syrischen Staat als Oppositioneller eingestuft werden, jedoch keinesfalls als gefährlicher Regimegegner. Dazu ist seine Rolle, die er als Regimegegner in Syrien gespielt hat, einfach zu gering. Seine Aktivitäten waren nicht so, dass der syrische Staat sich durch ihn so bedroht fühlen musste, dass er sogar zum Mittel der Sippenhaft greift, um des "Täters" habhaft zu werden. [...]