OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 08.12.2010 - 1 B 295/10 - asyl.net: M17995
https://www.asyl.net/rsdb/M17995
Leitsatz:

Zur Frage, ob einem in Deutschland aufgewachsenen armenischen Staatsangehörigen, der wegen Verwurzelung die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erfüllt (§ 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK), die Ableistung des zweijährigen Wehrdienstes in Armenien zur Erlangung eines Passes zumutbar ist.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Verwurzelung, Ausschlussgrund, Zumutbarkeit, Ausreisepflicht, Passpflicht, Armenien, Militärdienst, Passersatz, Fiktionswirkung
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 3, AufenthG § 5 Abs. 2 Nr. 3, AufenthG § 81 Abs. 5
Auszüge:

[...]

1. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass im Falle des Antragstellers die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK wegen Verwurzelung erfüllt sind. Diese Voraussetzungen sind gegeben, wenn die nach Art. 8 EMRK vorzunehmende Abwägung dazu führt, dass eine Aufenthaltsbeendigung nach den konkreten Umständen des Falles unverhältnismäßig wäre (vgl. dazu näher BVerwG, B. v. 19.01.2010 - 1 B 25/09 - NVwZ 2010, 707; OVG Bremen, B. v. 22.10.2010 in den Verfahren 1 A 383/09 und 1 B 154/10; B. v. 01.12.2010 - 1 B 310/10). Dazu hat das Verwaltungsgericht im Einzelnen die persönlichen und sozialen Bindungen gewürdigt, die der 1986 geborene und 1993 mit seinen Eltern eingereiste Antragsteller während seines Aufenthalts in Deutschland entwickelt hat. Es hat die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK unbeschadet davon als erfüllt angesehen, dass der Aufenthalt des Antragstellers in dieser Zeit überwiegend lediglich geduldet war, und zwar wegen Passlosigkeit der Familie. Dass ein lediglich geduldeter Aufenthalt nicht von vornherein einer Verwurzelung entgegenstehen muss, entspricht der Rechtsprechung des Senats (vgl. B. v. 22.11.2010 - 1 A 383/09). Diesbezüglich erhebt die Beschwerde auch keine Einwendungen; die Antragsgegnerin geht ersichtlich selbst davon aus, dass im Falle des Antragstellers grundsätzlich nach den genannten Vorschriften ein Aufenthaltsanspruch aus humanitären Gründen gegeben ist.

Die Ansicht der Antragsgegnerin, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gleichwohl nicht in Betracht komme, weil die Ausschlussregelung des § 25 Abs. 5, Satz 3 und 4 AufenthG zur Anwendung komme, kann nicht gefolgt werden. Nach Satz 3 darf eine Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Nach Satz 4 liegt ein Verschulden insbesondere vor, wenn der Betreffende falsche Angaben macht oder über seine Identität täuscht oder zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Ausreisehindernisses nicht erfüllt. Diese Ausschlussregelung findet Anwendung, wenn der Ausländer durch ein bestimmtes Verhalten selbst das Ausreisehindernis schafft, d. h. er die Beseitigung des Ausreisehindernisses gleichsam in seiner Hand hat (vgl. dazu BVerwG, U. v. 10.11.2009 - 1 C 19/08 - BVerwGE 135, 239). Das ist aber, wenn die Unzumutbarkeit der Ausreise das Ergebnis einer auf Art. 8 EMRK beruhenden Abwägung ist, nicht der Fall.

2. Das Verwaltungsgericht hat weiter angenommen, dass § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nicht entgegenstehe. Nach dieser Vorschrift setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Regel voraus, dass der Ausländer die Passpflicht nach § 3 AufenthG erfüllt. Der Antragsteller verfügt über keinen armenischen Reisepass. Nach den vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen könnte er einen solchen Pass nur erlangen, wenn er den zweijährigen Wehrdienst in Armenien ableisten würde. Das hat das Verwaltungsgericht nach den konkreten Umständen des Falles als nicht zumutbar angesehen und hat deshalb das Vorliegen eines atypischen Falles im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG bejaht.

Die Beschwerde wendet sich gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, dem Antragsteller sei eine Ausreise nach Armenien zur Ableistung des Wehrdienstes nicht zumutbar. Sie kann aber bereits deshalb nicht durchdringen, weil sie sich mit der für die Beurteilung des Verwaltungsgerichts maßgeblichen Erwägung nicht auseinandersetzt. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass im Falle einer längerfristigen Ausreise des Antragstellers für ihn keine Möglichkeit besteht, nach Deutschland dauerhaft zurückzukehren, er also seinen derzeitigen Aufenthaltsanspruch endgültig verlieren würde (Seite 13/14 des angefochtenen Beschlusses). Die Richtigkeit dieser Erwägung wird von der Beschwerde nicht in Zweifel gezogen. Das bedeutet, dass der Antragsteller, würde er dem Ansinnen der Antragsgegnerin folgen, zwar in den Besitz eines armenischen Passes gelangen würde, zugleich aber an einer Rückkehr nach Deutschland gehindert wäre. Mit der Passbeschaffung würde er mithin nicht die Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis schaffen, sondern er würde im Ergebnis seine derzeitige aufenthaltsrechtliche Stellung, die ihre Grundlage in Art. 8 EMRK findet, dauerhaft verlieren. Dass das Ansinnen der Antragsgegnerin dem Antragsteller unter diesen Umständen nicht zumutbar ist, leuchtet unmittelbar ein.

Unabhängig liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass selbst im Falle einer Rückkehroption die Forderung nach einer Ableistung des Wehrdienstes unverhältnismäßig sein könnte. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts stellt die armenische Staatsangehörigkeit des Antragstellers, der sich seit 17 Jahren in Deutschland aufhält, nur noch ein formales Band dar. Der Antragsteller hat geltend gemacht, seit seiner Einreise im Jahr 1993 nicht mehr in Armenien gewesen zu sein und keinen Bezug zu dem Land zu haben. Unter anderem beherrsche er nicht das armenische Alphabet, so dass er dort weder lesen noch schreiben könne. Ob unter diesen Umständen die Ableistung des Wehrdienstes ausländerrechtlich zumutbar, erscheint ernsthaft zweifelhaft.

Dass dem Antragsteller entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht vorgehalten werden kann, den Wehrdienst nicht während der Geltungsdauer der am 28.08.2008 bis zum 31.12.2009 erteilten Aufenthaltserlaubnis absolviert zu haben, hat das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt (Seite 14 des Beschlusses).

In dem angefochtenen Beschluss wird weiter näher ausgeführt, dass der Antragsteller derzeit auch nicht die Voraussetzungen für eine Zurückstellung bzw. Freistellung vom Wehrdienst erfüllt (Seite 11/12). Die Beschwerde zeigt Anhaltspunkte, aus denen sich die Fehlerhaftigkeit dieser Feststellungen ergeben könnte, nicht auf.

Bei zusammenfassender Würdigung drängt es sich auf, dass im Falle des Antragstellers die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthVO erfüllt sind, d. h. ihm nach derzeitigem Sachstand die Erfüllung der Wehrpflicht aus zwingenden Gründen nicht zumutbar ist. Das bedeutet, dass die Ausstellung eines Passersatzes nach § 5 Abs. 1 AufenthVO in Betracht käme. In diesem Fall würde der Antragsteller sogar die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG erfüllen. Das Oberverwaltungsgericht geht dieser Frage hier jedoch nicht weiter nach, weil sie nicht Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist.

Das Oberverwaltungsgericht weist darauf hin, dass die Antragsgegnerin, sollte sie auf Durchführung eines Hauptsacheverfahrens bestehen, dem Antragsteller für dessen Dauer eine Fiktionsbescheinigung entsprechend § 81 Abs. 5 AufenthG zu erteilen hat (vgl. OVG Bremen, B. v. 17.09.2010 -1 B 140/10 -). [...]