VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 05.05.2010 - 5 A 207/09 MD - asyl.net: M18006
https://www.asyl.net/rsdb/M18006
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Zwangsverheiratung.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Afghanistan, Zwangsehe, psychische Erkrankung, richterliche Überzeugungsgewissheit, Glaubwürdigkeit, Parteigutachten, Suizidgefahr, Schutzfähigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat in der persönlichen Anhörung beim Bundesamt und im Verlaufe des gerichtlichen Verfahrens überzeugend glaubhaft machen können, dass ihr bei einer Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich die Zwangsverheiratung drohe, der die Klägerin selbst nur durch einen weiteren Versuch der Selbstverbrennung entgehen wolle und könne. Dass die Klägerin einen solchen Versuch auch tatsächlich durchführen werde, legt das vorbezeichnete Gutachten vom 26.04.2010 auf Seite 21 ausführlich und nachvollziehbar dar. Danach hinterlässt die Klägerin den glaubhaften Eindruck, dass sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich einen weiteren Versuch der Selbstverbrennung und folglich eines Suizides tatsächlich in die Tat umsetzen werde. Sowohl den Gutachter im Verlaufe der Untersuchung/Begutachtung am 16.04.2010 bzw. 19.04.2010 und das Gericht im Verlaufe der mündlichen Verhandlung am 30.04./05.05.2010 vermochte sie zu überzeugen. Zu diesem Ergebnis führt letztlich insbesondere die Feststellung der Gutachterin ... auf Seite 21 des vorgelegten Gutachtens vom 26.04.2010, wonach bei der Klägerin Tendenzen zu Selbstverletzung und latenter Suizidalität diagnostiziert wurden.

Wenn und soweit der Klägerin nach einer Rückkehr nach Afghanistan - woran das Gericht nunmehr keine Zweifel mehr hat - Zwangsverheiratung droht, hat die Klägerin unabhängig von der festgestellten latenten Suizidalität Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzung des § 60 Abs. 1 AufenthG, weil die Klägerin gegenüber einer solchen Zwangsverheiratung schutzlos sein dürfte. Nach eigenen Aussagen, an denen das Gericht ebenfalls keine Zweifel hat, besitzt die Klägerin nicht den Rückhalt der Familie. Im Gegenteil ist die Familie bestrebt, die Zwangsverheiratung zu vollziehen.

Danach ist es beachtlich wahrscheinlich, dass der Klägerin wegen ihres Geschlechts bei einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG drohen würde. In § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist - insoweit über Art. 10 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie hinaus klargestellt (BT-Drs. 15/420, S. 91), dass eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit an das Geschlecht anknüpft. Die Verfolgungsmaßnahmen müssen dabei allein an das Geschlecht anknüpfen und dürfen nicht auch auf anderen Umständen beruhen. Dies kann bei unsittlichem Verhalten oder Zwangsheirat vorliegen (VG Hamburg, U. v. 10.09.2008, 5 A 466/06, JURIS).

Dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich die Zwangsverheiratung droht, hat die Klägerin glaubhaft dargelegt und das Gericht an den Schilderungen auch im Ergebnis der Feststellungen des psychiatrisch-fachärztlichen Gutachtens vom 21.04.2010 keine Zweifel.

Der Klägerin ist daher die Flüchtlingseigenschaft gem. § 60 Abs. 1 AufenthG unter Aufhebung des mit der Klage angefochtenen Bescheides der Beklagten vom 08.09.2009 zuzuerkennen. [...]