Einstweilige Anordnung auf Gewährung von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG, da zumindest offen ist, ob die Antragstellerin sich rechtsmissbräuchlich verhalten hat, als sie sich weigerte, im Rahmen ihrer Abschiebung in das Flugzeug nach Damaskus zu steigen.
1. Es ist trotz der am Frankfurter Flughafen ausgestellten ärztlichen Bescheinigung über die Flug- und Reisetauglichkeit nicht auszuschließen, dass die Antragstellerin an einer manifesten psychischen Erkrankung leidet, die einer Abschiebung entgegenstand.
2. Hinzu kommt, dass derzeit aus Sicht des Senats auch hinreichend stichhaltige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Abschiebung nach Syrien schon im Juni 2010 nicht möglich bzw. rechtswidrig gewesen wäre, weil die Antragstellerin in der unter www.kurdwatch.com veröffentlichten Fahndungsliste des syrischen Geheimdienstes steht.
[...]
Der Senat sieht es nach dem derzeitigen Sachstand als überwiegend wahrscheinlich und damit glaubhaft gemacht an, dass der Antragstellerin Leistungen nach § 2 AsylbLG zustehen. Die hierfür erforderliche Vorbezugszeit von Leistungen nach § 3 AsylbLG in einem Zeitraum von 48 Monaten ist unstreitig erfüllt.
Maßgebend für den Leistungsanspruch ist daher, ob der Antragstellerin eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer ihres Aufenthaltes vorzuwerfen ist. [...]
Als Ansatzpunkt für den Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen Verlängerung des Aufenthaltes kommt hier, soweit erkennbar, allein das Verhalten der Antragstellerin am 8.6.2010 in Betracht. Auch die Antragsgegnerin beschränkt sich in ihrem Vorbringen auf diesen Aspekt. Entgegen der Auffassung des SG hält es der Senat unter Berücksichtigung des derzeitigen Informationsstandes zumindest für offen, ob sich die Antragstellerin am 8.6.2010 ohne triftigen medizinischen Grund und damit verwertbar geweigert hat, das Flugzeug nach Damaskus zu besteigen, und ob sie damit (rechtsmissbräuchlich) ihre Abschiebung nach Syrien verhindert hat. Der Antragsgegnerin ist insoweit zwar zuzugeben, dass objektive Anhaltspunkte für das Bestehen einer manifesten psychischen Erkrankung der Antragstellerin vor bzw. bei der Abschiebung, die einem Vollzug der Abschiebung entgegen gestanden haben könnte, (bisher) kaum feststellbar sind, Vorbefunde des behandelnden Hausarztes der Antragstellerin sind nicht eingereicht worden. Der Arzt am Frankfurter Flughafen ... hat in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung die Flug- und Reisetauglichkeit der Antragstellerin bescheinigt. Ausweislich des Berichts des Stationsarztes des evangelischen Krankenhauses ... wurde dort am Tag der geplanten Abschiebung jedenfalls keine Therapienotwendigkeit gesehen. Andererseits liegen inzwischen nicht nur zwei Stellungnahmen des behandelnden Psychiaters der Antragstellerin, sondern auch ein Bericht der Rheinischen Klinik ... vor, die eine tiefgreifende psychische Störung der Antragstellerin bescheinigen. Auch die Tatsache, dass die Antragstellerin überhaupt stationär aufgenommen wurde, spricht für das Vorliegen einer nicht nur unwesentlichen und möglicherweise schon im Zeitpunkt der Abschiebung relevanten Störung. Es ist vor diesem Hintergrund jedenfalls nicht auszuschließen und ggf. durch weitere Ermittlungen in einem Hauptsacheverfahren zu klären, ob sich die Diagnosestellung erhärtet, und wenn ja, ob der Antragstellerin deswegen ein Schuldvorwurf wegen der Erfolglosigkeit der Abschiebung am 8.6.2010 nicht gemacht werden kann.
Hinzu kommt, dass es nach dem Gesetzeswortlaut einer kausalen Verknüpfung zwischen dem (rechtsmissbräuchlichen) Verhalten des Ausländers und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes bedarf. Dabei reicht es zwar grundsätzlich aus, wenn das von der Rechtsordnung missbilligte Verhalten generell-abstrakt ("typisierend") der vom Gesetzgeber missbilligten Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes dienen kann (BSG a.a.O. Rn, 43 f.). Eine Ausnahme von der typisierenden Betrachtungsweise muss nach der Rechtsprechung des BSG (a.a.O. Rn. 44), der sich der Senat anschließt, allerdings dann gemacht werden, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können, etwa weil die Erlasslage des zuständigen Innenministeriums eine Abschiebung ohnehin nicht zugelassen hätte o.ä. Ob eine solche Fallgestaltung hier im Ergebnis vorliegt, kann unter den Umständen des vorliegenden Eilverfahrens zwar ebenfalls nicht abschließend geklärt werden. Es liegen jedoch derzeit aus Sicht des Senates hinreichend stichhaltige Anhaltspunkte dafür vor, dass eine Abschiebung der Antragstellerin nach Syrien schon im Juni 2010 nicht möglich bzw. rechtswidrig gewesen wäre, und dass deswegen der dargestellte Kausalzusammenhang selbst bei unterstellter Rechtsmissbräuchlichkeit des Verhaltens der Antragstellerin nicht besteht.
Schon den allgemeinen, von der Antragstellerin vorgelegten, nicht fallbezogenen Informationen zur Behandlung nach Syrien zurückgeführter Personen - insbesondere kurdischer Volkszugehörigkeit -, namentlich dem Urteil des VG Chemnitz vom 7.6.2010 (Seite 7-10) und dem Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 8.9.2010, lässt sich entnehmen, dass nach Inkrafttreten des bilateralen Rückführungsübereinkommens zwischen der Bundesrepublik und Syrien Anfang des Jahres 2009 Fälle von Verhaftungen von aus Deutschland abgeschobenen Syrern bekannt geworden sind. Diese haben das Bundesinnenministerium am 16.12.2009 zu einem Rundschreiben an die Länder veranlasst mit der Bitte, Entscheidungen über Asylfolgeanträge bis zu einer aktualisierten Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes zurückzustellen und bei anstehenden Abschiebungen besonders sorgfältig zu prüfen. Vor diesem Hintergrund hat das VG Chemnitz in dem dort entschiedenen Fall, der von den tatsächlichen Gegebenheiten her zumindest Ähnlichkeiten zu dem vorliegenden Fall der Antragstellerin aufweist, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes als gegeben angesehen. Dass eine entsprechende Gefährdung auch für die Antragstellerin vorliegt, ergibt sich aus der unter www.kurdwatch.com veröffentlichten Liste mit Personen, die wegen Verbrechen gegen den syrischen Staat gesucht werden. Die Antragstellerin wird in dieser Liste geführt. Nach der Einschätzung des EZKS vom 7.11.2010 ergibt sich daraus für die Antragstellerin das Risiko der Verfolgung mit Gefahr für Leib und Leben unmittelbar nach einer Rückkehr nach Syrien. Jedenfalls derzeit hat der Senat keine Bedenken, diese Einschätzung als glaubhaft gemacht anzusehen. Die Ausführungen in der Stellungnahme sind fundiert begründet und schlüssig dargestellt. Sie fügen sich zudem widerspruchsfrei ein in die allgemeinen Erkenntnisse, die das VG Chemnitz seiner Entscheidung vom 7.6.2010 zugrunde gelegt hat. Der Überzeugungskraft der Beurteilung des EZKS steht nicht entgegen, dass es selbst an der Veröffentlichung der Liste unter www.kurdwatch.com beteiligt ist. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur das VG Chemnitz in seiner Entscheidung vom 7.6.2010 eine Stellungnahme des EZKS verwertet hat, sondern Stellungnahmen des EZKS auch in der von dem VG Stade herausgegebenen Sammlung von Materialien zu Syrien geführt werden. Schließlich kommt es nicht darauf an, dass der Antragstellerin im Juni 2010 noch nicht bekannt war, dass sie auf der genannten Liste gesuchter Personen geführt wird. Maßgebend sind insoweit allein die tatsächlichen objektiv einer Abschiebung entgegenstehenden Gesichtspunkte.
Nach alledem spricht (derzeit) mehr für die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als dagegen. Sofern sich neue Gesichtspunkte aus dem noch anhängigen Asylfolgeverfahren oder dem Bekanntwerden einer aktualisierten Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes ergeben sollten, könnte dies in Zukunft jedoch zu berücksichtigen sein.
Ist nach alledem ein Anordnungsanspruch (derzeit) als glaubhaft gemacht anzusehen, liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 24.9.2010 - L 20 AY 55/10 B ER und Beschluss vom 31.3.2010 - L 20 B 3/09 AY ER m.w.N.) sichern allein die Leistungen nach § 2 AsylbLG das verfassungsrechtliche Existenzminimum. Es ist den Betroffenen bei glaubhaft gemachtem Anordnungsanspruch daher regelmäßig nicht zuzumuten, für die Dauer des Hauptsacheverfahrens, das sich unter Umständen über mehrere Jahre hinziehen kann, mit den deutlich geringeren Leistungen nach § 3 AsylbLG auszukommen.
Im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens hat es Senat für angemessen erachtet, die Antragsgegnerin für den aus dem Tenor ersichtlichen Zeitraum vorläufig zur Leistung zu verpflichten. Für eine Verpflichtung der Behörde zur Erbringung von vorläufigen Leistungen für Zeiten vor der Antragstellung bei Gericht (hier: 15.9.2010) besteht kein Bedürfnis (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b Rn. 29a). Der Senat versteht den Antrag der Antragstellerin entsprechend, so dass eine Abweisung des Antrages im Übrigen insoweit nicht erforderlich war. Da die Leistungen nach dem AsylbLG monatsweise erbracht werden, sieht es der Senat ferner für ausreichend an, eine Verpflichtung nur bis zum Ende des Monats auszusprechen, in dem die Entscheidung voraussichtlich zugestellt wird. Er geht jedoch davon aus, dass die Antragsgegnerin bei im Wesentlichen gleich bleibenden Umständen auch über 31.12.2010 hinaus unter Berücksichtigung der Ausführungen in der vorliegenden Entscheidung weiter Analogleistungen an die Antragstellerin erbringen wird. [...]