LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.11.2010 - L 9 AS 1346/10 B ER; L 9 AS 1347/10 B - asyl.net: M18051
https://www.asyl.net/rsdb/M18051
Leitsatz:

Im Hauptsacheverfahren wird zu prüfen sein, ob die Kostenerstattung für DNA-Gutachten zum Nachweis der Abstammung der Kinder im Visumsverfahren einen von den Regelleistungen umfassten und nach den Umständen unabweisbaren Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 SGB II darstellt. Eine Kostenerstattungsregelung ist in diesen Fällen gesetzlich nicht vorgesehen. Es ist allerdings offenbar rechtlich und verwaltungsgerichtlich auch nicht abschließend geklärt, ob die Aufforderung zur Beibingung eines DNA-Gutachtens rechtmäßig ist; eine entsprechende Rechtsgrundlage fehlt angesichts des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG). Das unterscheidet diese Fallkonstellation von den Fällen, in welchen die Übernahme der Passkosten geltend gemacht wird.

Schlagwörter: SGB II, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Kostenerstattung, DNA-Gutachten, Abstammungsgutachten, Regelleistung, Darlehen, Härtefall, Sachverständigengutachten, Bedarf, Visumsverfahren, Kindernachzug, Mitwirkungspflicht, Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Amtshaftung, atypischer Ausnahmefall,
Normen: SGG § 86b Abs. 2 S. 2, SGB II § 21, SGB II § 23 Abs. 3, SGB II § 5 Abs. 3 S. 1, SGB II § 3 Abs. 3 S. 2, SGB II § 20, SGB II § 23 Abs. 1, AufenthG § 82 Abs. 1 S. 1, GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 34, BGB § 839, SGB XII § 73, SGB XII § 67
Auszüge:

[...]

2. Im sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren wird zu klären sein, ob der Antragsteller von der Antragsgegnerin die Erstattung der Kosten für die Erstellung des DNA-Gutachtens mit Erfolg beanspruchen kann. Hierbei dürften folgende rechtliche Überlegungen maßgeblich sein:

a) Das SGB II enthält keine Anspruchsgrundlage für eine Verurteilung des Grundsicherungsträgers zur Übernahme von Kosten eines DNA-Gutachtens als Zuschuss.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gewährung eines Mehr- bzw. Sonderbedarfes gemäß § 21 oder § 23 Abs. 3 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sind nicht erfüllt. Gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 SGB II decken die nach dem SGB II vorgesehenen Leistungen den Bedarf der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und der mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen. Eine davon abweichende Festlegung der Bedarfe schließt § 3 Abs. 3 Satz 2 SGB II ausdrücklich aus. Damit hat die Gesetzgebung zum Ausdruck gebracht, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II bedarfsdeckend und abschließend sind (Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 7 Rn. 17).

Ein Leistungsanspruch kann auch nicht aus dem Grundgesetz (GG) hergeleitet werden. Zum einen bedarf ein solcher Anspruch grundsätzlich der legislativen Ausgestaltung. Denn die Verfassung kann nur den tragenden Grund für eine Leistungsgewährung setzen, (erst) das einfache Recht liefert Inhalt und Schranken der Berechtigung (Seiler, JZ 2010, S. 500, 504). Zum anderen ist eine Leistungsgewährung im vorliegenden Kontext verfassungsrechtlich nicht geboten.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09 - BGBl. I S. 193) entschieden, dass die Regelleistung des § 20 SGB II nicht denjenigen besonderen, laufenden, nicht nur einmaligen und unabweisbaren Bedarf zu erfassen vermag, der zwar seiner Art nach berücksichtigt wird, dies jedoch nur in durchschnittlicher Höhe. Tritt in Sondersituationen ein höherer, überdurchschnittlicher Bedarf auf, erweise sich die Regelleistung als unzureichend. Auch hier könnten einmalige oder kurzfristige Spitzen im Bedarf durch ein Darlehen nach § 23 Abs. 1 SGB II ausgeglichen werden. Bei einem längerfristigen, dauerhaften Bedarf sei das indessen nicht mehr möglich. Deshalb bedürfe es neben den in §§ 20 ff. SGB II vorgegebenen Leistungen noch eines zusätzlichen Anspruchs auf Leistungen bei unabweisbarem, laufendem, nicht nur einmaligem und besonderem Bedarf zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums. Dieser Anspruch entstehe aber erst, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass die Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen - einschließlich der Leistungen Dritter und unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen - das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet. Dieser zusätzliche Anspruch dürfte angesichts seiner engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen nur in seltenen Fällen entstehen. Um die Gefahr einer Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in der Übergangszeit bis zur Einführung einer entsprechenden Härtefallklausel zu vermeiden, müsse die verfassungswidrige Lücke für die Zeit ab der Verkündung des Urteils des BVerfG durch eine entsprechende Anordnung des Bundesverfassungsgerichts geschlossen werden (zum Vorstehenden: BVerfG, a.a.O., Rn. 208 und 220).

Ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger und besonderer Bedarf zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums in dem vorgenannten Sinne liegt hier nicht vor. Denn der Antragsteller begehrt die einmalige Übernahme von Gutachtenkosten, so dass es bereits an einem laufenden Bedarf fehlt, der nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Voraussetzung für einen Härtefall ist.

b) Der Antragsteller hat vielmehr einen einmaligen Bedarf geltend gemacht. Ob die Antragsgegnerin angesichts dieses einmaligen Bedarfs zur Gewährung eines Darlehens gemäß § 23 Abs. 1 SGB II verpflichtet war bzw. ist, wird im sozialgerichtlichen Hauptsachverfahren zu klären sein, sofern der Antragsteller eine darlehensweise bewilligte Leistung begehren sollte.

Sofern der Antragsteller im Klageverfahren eine darlehensweise Leistungsgewährung begehren sollte, wird das SG zu prüfen haben, ob die Gutachtenkosten hier einen "von den Regelleistungen umfasste[n] und nach den Umständen unabweisbare[n] Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhaltes" gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II darstellen.

Ein Bedarf besteht bei dem Antragsteller deshalb, weil die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Addis Abeba ihn im Rahmen des Verfahrens auf Erteilung eines Visums für seine drei weiteren in Äthiopien lebenden Kinder mit Schreiben vom 29.04.2010 aufgefordert hat, ein DNA-Gutachten zur Feststellung der Abstammung vorzulegen. Allerdings ist es offenbar rechtlich und verwaltungsgerichtlich noch nicht abschließend geklärt, ob eine solche Aufforderung rechtmäßig ist. Gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ist ein Ausländer verpflichtet, seine Belange und für ihn günstige Umstände, soweit sie nicht offenkundig oder bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen und die erforderlichen Nachweise über seine persönlichen Verhältnisse, sonstige erforderliche Bescheinigungen und Erlaubnisse sowie sonstige erforderliche Nachweise, die er erbringen kann, unverzüglich beizubringen. Eine Kostenerstattungsregel ist dort jedoch - anders als im Asylverfahrensrecht (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Asylbewerberleistungsgesetz <AsylbLG>) - nicht vorhanden. Es fehlt ferner eine Rechtsgrundlage, die ausdrücklich zur Aufforderung befugt, gerade ein DNA-Gutachten beizubringen und damit eine besondere und angesichts des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) möglicherweise grundrechtsrelevate Mitwirkung auszuüben. Wäre die Aufforderung zur Beibringung eines DNA-Gutachtens rechtswidrig, käme ggf. ein Amtshaftungsanspruch in Betracht (Art. 34 Grundgesetz <GG>, § 839 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>).

Dies unterscheidet die vorliegende Fallkonstellation von derjenigen, in der die Übernahme von Passkosten ausländischer Pesonen begehrt wird (hierzu ausführlich Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen <LSG NRW>, Beschluss vom 22.07.2009, L 7 B 204/09 AS, Juris). Denn die Regelung des § 3 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes begründet ausdrücklich eine gesetzliche Passpflicht. Für eine Einbeziehung der Passbeschaffungskosten in den Bedarf, der von den Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II umfasst ist, könnte sprechen, dass die Regelung des § 3 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes eine gesetzliche Passpflicht begründet, ohne hilfebedürftige Menschen hiervon zu suspendieren. Die Gesetzgebung könnte sich angesichts dessen möglicherweise selbstwidersprüchlich verhalten, rechnete sie Passbeschaffungskosten nicht zum von den Regelleistungen des SGB II umfassten Bedarf hilfebedürftiger Menschen (zum Vorstehenden: LSG NRW a.a.O.).

Im dem sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren des Antragstellers wird zu klären sein, ob er entsprechend der Rechtsauffassung des SG vorrangig auf den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz zu verweisen war, um die hier streitige Rechtsfrage, ob der Antragsteller im Rahmen des Verfahrens auf Erteilung eines Visums zur Vorlage eines DNA-Gutachtens aufgefordert werden durfte, einer gerichtlichen Klärung zuzuführen, und/oder angesichts eines möglichen Amtshaftungsanspruches auf den zivilgerichtlichen Rechtsweg. Hierfür könnte sprechen, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes von dem hilfebedürftigen Menschen fordern, alle Möglichkeiten zur Selbsthilfe zu ergreifen, wie dies §§ 1 und 2 SGB II (allerdings in einem anderen Kontext, weil es dort unmittelbar um die Bemühungen zur eigenständigen 'Sicherung des Lebensunterhaltes geht) normieren. Andererseits sieht § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB II einen Übergang von Ansprüchen - hier eines möglichen Amtshaftungsanspruchs - auf den Grundsicherungsträger vor.

c) Der Antragsteller kann die Übernahme der Passbeschaffungskosten auch nicht von dem Sozialhilfeträger gemäß § 73 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) verlangen, so dass dieser auch nicht notwendig beizuladen war gemäß § 75 Abs. 2 SGG.

Die Norm des § 73 SGB XII dürfte im vorliegenden Kontext nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch weiterhin als "Hilfsanspruch" Anwendung finden können (vgl. BSG, Beschluss vom 19.08.2010, B 14 AS 13/10 R, Juris, Rn. 23 f.). Gemäß § 73 SGB XII können Leistungen der. Sozialhilfe auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen (Satz 1), wobei die Leistungen als Beihilfe oder als Darlehen erbracht werden können (Satz 2). Nach der Rechtsprechung des BSG ist aber Voraussetzung hierfür, dass eine besondere, atypische Lebenslage vorliegt, die eine Nähe zu den anderen im Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII geregelten Bedarfslagen, den unter Geltung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) so bezeichneten "Hilfen in besonderen Lebenslagen", aufweist (zuletzt BSG, Urteil vom 28.10.2009, B 14 AS 44/08 R, m.w.N.).

Hinsichtlich der Übernahme der Kosten eines DNA-Gutachtens liegt keine besondere, atypische Lebenslage vor, die eine Nähe zu den anderen im Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist. Denn die Übernahme von Gutachtenkosten weist keine Nähe zu den Hilfen bei Gesundheit (Fünftes Kapitel des SGB XII), der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (Sechstes Kapitel), der Hilfe zur Pflege (Siebtes Kapitel) oder der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (Achtes Kapitel) auf.

Das Tragen von Gutachtenkosten ist insbesondere keine besondere soziale Schwierigkeit im Sinne des § 67 SGB XII. Denn die §§ 67 ff. SGB XII enthalten ein spezielles Hilfsangebot für Personen, bei denen komplexe Problemlagen vorliegen (Bieback in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl. 2010, § 67 Rn. 1), die sich durch eine Verbindung von besonderen Lebensverhältnissen mit sozialen Schwierigkeiten kennzeichnen (§ 1 Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten vom 24.01.2001, BGBl. I S. 179). Die Gesetzgebung hat insoweit insbesondere die persönliche Betreuung sowie Hilfen zur Erlangung zur Sicherung des Arbeitsplatzes oder zur Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung im Blick (§ 68 Abs. 1 Satz 1. SGB XII; vgl. auch § 1 Abs. 3 der Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten). Eine komplexe Problemlage in diesem Sinne ist hier nicht gegeben. [...]