VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Beschluss vom 10.01.2011 - 20 L 1920/10.A [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 18] - asyl.net: M18053
https://www.asyl.net/rsdb/M18053
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Überstellung nach der Dublin II-VO nach Italien. Es liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in Italien nicht an den zu fordernden und bei Einfügung des § 27a AsylVfG vorausgesetzten unions- bzw. völkerrechtlichen Standard heranreichen. Insbesondere ist fraglich, ob die Antragsteller ihre Asylgründe in Italien noch uneingeschränkt vorbringen können.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, einstweilige Anordnung, Selbsteintritt, Konzept der normativen Vergewisserung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1 Bst. e, AsylVfG § 27a
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist auch begründet.

Denn es liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in Italien nicht an die zu fordernden und bei Einfügung des § 27a AsylVfG vorausgesetzten unions- bzw völkerrechtlichen Standards heranreichen. Insbesondere ist zu klären, ob die Antragsteller ihre Asylgründe in Italien noch uneingeschränkt vorbringen können oder ob ihnen dies dort nicht oder nur noch unter erheblichen, mit dem unions- bzw. völkerrechtlichen Standard unvereinbaren Einschränkungen möglich ist (vgl. ECRE-Studie zur Dublin II-Praxis, S 3, Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittsaat" Italien, November 2009, www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user_upload/pdf_divers/Berichte/Bericht_DublinII-Italien.pdf (Stand 22 Juni 2010).

Zudem sind die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge in Italien völlig überlastet, so dass die große Mehrheit der Asylsuchenden ohne Obdach und ohne gesicherten Zugang zu Nahrung leben muss. Auch die Gesundheitsversorgung ist nicht ausreichend sichergestellt, da diese teilweise nur mit einer festen Wohnadresse beansprucht werden kann (vgl. Bethke/Bender, Bericht über die Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010 vom 29.11.2010; Schweizerische Beobachtungstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittsaat" Italien, November 2009, www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user.../Bericht_DublinII-Italien.pdf (Stand 22. Juni 2010), Médecins Sans Frontieres, Over the wall - a tour of Italy‘s migrant centres, Januar 2010).

Die vorgenannten Defizite vor allen im Bereich der Aufnahmebedingungen wiegen im Falle der Antragsteller besonders schwer, da von einer Überstellung nach Italien nicht nur die 2003 bzw. 2005 geborenen minderjährigen Antragsteller zu 3) und 4) betroffen wären, sondern auch der erst am ... 2010 geborene Sohn der Antragsteller zu 1) und 2).

Die bekannt gewordenen Informationen über die Situation von Asylbewerbern in Italien haben den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in jüngster Zeit wiederholt zu vorläufigen Entscheidungen nach Art. 39 der Verfahrensordnung (Rules of Court) mit dem Ziel der Verhinderung von Überstellungen nach Italien veranlasst (vgl. EGMR, Statements of Facts u.a. vom 14.09.2010 - Nr. 2303/10 -,vom 30.08.2010 - Nr. 37159/00 -, vom 04.06.2010 - Nr. 30815/09 und 16.03.2010 - Nr 44517/09) und rechtfertigen eine verfassungskonforme Auslegung des § 34a Abs. 2 AsylVfG (vgl. für Rückfuhrungen nach Italien VG Weimar, Beschluss vom 15.12.2010 - 5 E 20190/10 We - www.asyl.net; VG Darmstadt, Beschluss vom 09.11 2010 - 4 L 1455/10 DA.A(1) - www.asyl.net; VG Minden, Beschluss vom 22.06.2010 - 12 L 264/10 A - Juris).

Die tatsächliche Situation Asylsuchender in Italien begründet auch den Anordnungsanspruch der Antragsteller. Die Antragsteller haben einen Anspruch, dass die Antragsgegnerin von der ihr in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO eingeräumten Möglichkeit des Selbsteintritts ermessensfehlerfrei Gebrauch macht. Als unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht bildet die Dublin II-VO eine geeignete Grundlage für die Begründung subjektiver Rechte. Es spricht Überwiegendes dafür, dass Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO für Ausländer jedenfalls dann ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts begründet, wenn die Entscheidung - wie hier im Hinblick auf den unzureichenden Zugang zum Asylverfahren und die mangelhafte Sicherstellung des Lebensunterhaltes im nach der Dublin II-VO zuständigen Mitgliedstaat - durch nationales Verfassungsrecht, namentlich durch die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflichten, geprägt wird [...]