OVG Rheinland-Pfalz

Merkliste
Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.12.2010 - 10 A 10911/10.OVG - asyl.net: M18068
https://www.asyl.net/rsdb/M18068
Leitsatz:

Zum heutigen Zeitpunkt (2010) haben sich die Verhältnisse im Dorfschützersystem in der Türkei generell so weit geändert, dass ein in den 1990er Jahren zwangsweise rekrutierter Dorfschützer allein wegen der Niederlegung des Amtes bei einer Rückkehr in die Türkei vor einer (erneuten) politischen Verfolgung hinreichend sicher ist.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Türkei, Kurden, Dorfschützer, Wegfall der Umstände, politische Verfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Änderung der Sachlage,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AuslG § 51 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Von daher beruhte das für den Kläger ausgesprochene Abschiebungsverbot nicht auf einem politischen Hintergrund (im engeren Sinne), im Sinne einer herausgehobenen eigenen politischen oder paramilitärischen Unterstützung der PKK (in den Worten des Klägers: "Verbindung zu einer staatsfeindlichen Organisation"), sondern auf der bloßen Niederlegung des Dorfschützeramtes bei einem "offensiven Bekenntnis zum Kurdentum".

Deshalb kommt es für den Widerruf entscheidend darauf an, ob allein die Niederlegung des Dorfschützeramtes und die Ablieferung der empfangenen Waffe beim Dorfvorsteher nach einer fast sechsjährigen Tätigkeit - zuletzt als Anführer der Dorfschützergruppe - und ohne ersichtlichen Grund bei einer Rückkehr in die Türkei Repressalien befürchten lassen. [...]

Aber auch unter Zugrundelegung des herabgestuften Prognosemaßstabes ist der Widerrufsbescheid rechtmäßig. Denn der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger heutzutage vor einer künftigen Verfolgung hinreichend sicher ist. Die für die Beurteilung der Gefährdungslage maßgeblichen Umstände haben sich seit Januar 2001 nachhaltig zu seinen Gunsten geändert, so dass er wegen der damaligen Vorgänge nicht mehr mit Repressalien der türkischen Sicherheitskräfte zu rechnen hat.

Bei dieser Beurteilung kommt es nach dem zuvor Gesagten auf das Interesse der türkischen Sicherheitskräfte an, gegenwärtig eines ehemaligen Dorfschützers allein wegen dessen früherer bloßen Weigerung, das Amt eines Dorfschützers nicht (mehr) auszuüben, habhaft zu werden - ohne dass er dabei zugleich auch als (exponierter) politischer Gegner aufgefallen wäre.

Hierfür haben sich indessen die Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Klägers in die Türkei eine Wiederholung einer unmittelbar drohenden Verfolgung auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Das ist aus mehreren Gründen der Fall.

Einmal ergibt sich das daraus, dass sich die Verhältnisse in der Türkei hinsichtlich des Dorfschützersystems generell so verändert haben, dass - unabhängig von der Frage, ob eine erneute zwangsweise Rekrutierung eine politische Verfolgung darstellt - eine solche von vornherein recht unwahrscheinlich ist. Denn seit dem Frühjahr 2000 wird das bisher praktizierte System der Dorfschützer nicht mehr aufrecht erhalten. Mit Runderlass des Innenministeriums an die Gouverneursämter der Provinzen vom 24. April 2000 ist angeordnet, dass keine neuen "vorläufigen" Dorfschützer mehr eingestellt werden. Durch Kündigung, Tod oder andere Gründe freiwerdende Stellen vorläufiger Dorfschützer werden nicht mehr besetzt (vgl.: Kaya, Gutachten vom 21. Juni 2003, S. 2 und vom 25. Oktober 2004, S. 6). Diese Anordnung des Innenministeriums wird seitdem, also seit nunmehr zehn Jahren, ersichtlich auch eingehalten.

Im Übrigen bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Anordnung in absehbarer Zeit außer Kraft gesetzt wird oder ihre Bedeutung verliert. Denn die Bedingungen, deretwegen das Dorfschützersystem seinerzeit geschaffen und ausgebaut wurde, haben sich inzwischen wesentlich geändert.

Das Mitte der 1980er Jahre geschaffene und in den 1990er Jahren weiter ausgebaute System diente u.a. dazu, die Dorfbewohner in den vier Notstandsprovinzen (Diyarbakir, Hakkari, Mardin und Siirt) und später - entsprechend der Ausweitung der Guerillatätigkeit - auch in der weiteren Provinzen mit starker kurdischer Bevölkerung - als "verlängerter Arm" der Sicherheitskräfte vor Ort zu rekrutieren und damit zugleich die kurdische Bevölkerung zu spalten ("Kurden gegen Kurden") (st. Rspr. d. Sen., vgl. z.B. Urteile vom 26. November 1999 - 10 A 12044/98.OVG - und vom 24. November 2000 - 10 A 11228/00.OVG -). Seit der Gefangennahme des Anführers der PKK Abdullah Öcalan ("Apo") und dessen Verurteilung durch ein türkisches Staatssicherheitsgericht im Jahre 1999 sowie nach dem von der PKK 1999 einseitig ausgerufenen Waffenstillstand und dem Abflauen der Guerillatätigkeit im Südosten der Türkei hat sich das dagegen gerichtete Dorfschützersystem weitgehend überlebt (vgl. Kaya, Gutachten vom 21. Juni 2003, S. 1 ff., und vom 25. Oktober 2004, S. 1 und 7). Die türkischen Sicherheitskräfte brauchten keinen "Druck" mehr auf die Bevölkerung zur Rekrutierung auszuüben, weil sie Dorfschützer in dieser veränderten und auch über Jahre hinweg stabilisierten Situation nicht mehr benötigte.

Im Gegenteil waren die weiter vorhandenen Dorfschützer ein erheblicher Kostenfaktor und auch ein Sicherheitsrisiko. Denn sie erhielten ein für die Verhältnisse in der Südosttürkei auskömmliches Gehalt und erwarben sogar einen Rentenanspruch (vgl. Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004, S. 6). Zudem bildeten sie ein Sicherheitsrisiko, weil damit viele Dorfbewohner unter Waffen und mit einem Amt ausgestattet waren. Damit konnte man - unter dem Deckmantel des Dorfschützersystems - persönliche Rivalitäten mit dem Anschein der Legalität und effektiv austragen. Das ging soweit, dass das Dorfschützeramt nicht selten für Straftaten zum eigenen Vorteil missbraucht wurde (vgl. Der Spiegel Nr. 20 vom 11. Mai 2009, FR und Die Welt vom 7. Mai 2009). Zudem agierten diese Dorfschützer vielfach nicht isoliert, sondern im Interesse und im Auftrag eines Clanchefs, Agha. Bei größeren Clans bildeten sie geradezu eine Privatarmee der Clanchefs. Damit ist das Macht- und Gewaltmonopol des türkischen Staates bisweilen lokal gefährdet. Das führte erst vor kürzerer Zeit beispielsweise zu dem Massaker in dem südostanatolischen Dorf Bilge (vgl. Der Spiegel, FR und Die Welt, a.a.O.). Dies und weitere Vorfälle haben dazu beigetragen, dass das Dorfschützersystem immer wieder in der Kritik steht, zum einen innenpolitisch, aber auch europaweit (vgl. die Beschlüsse und Fortschrittsberichte der EU-Kommission, vgl. Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004, S. 6 sowie Nützliche Nachrichten 10/2009, S. 4).

All dies hat zu einem gewissen Bedeutungsverlust des Dorfschützersystems in den letzten Jahren geführt. Dabei verkennt der Senat nicht, dass das Dorfschützersystem bisher nicht abgeschafft wurde und eine solche Maßnahme auch nicht ernstlich in die Wege geleitet ist. Im Gegenteil wollen der türkische Staat und die Sicherheitskräfte hierauf nicht gänzlich verzichten. Maßgeblich hierfür ist zum einen, dass eine vollständige und zügige Abschaffung der Dorfschützer eine erhebliche Unruhe in den für den türkischen Staat ohnehin schwierigen kurdischen Provinzen mit sich brächte, denn damit verlören viele - zudem bisher staatsloyale - Kurden ihren auskömmlichen Broterwerb, bis hin zu ihrer Rentenberechtigung. Zudem scheut er wohl auch den Konflikt mit den Clanchefs, die ihre Macht durch das Dorfschützersystem weiter haben ausbauen konnten, und diese bei einer völligen Abschaffung sicherlich verlören. Zum anderen will der türkische Staat offensichtlich auf diesen Machtfaktor vor Ort nicht verzichten, da er bei einer Zunahme der Guerillatätigkeit hierauf wieder zurückgreifen könnte - ohne dass allerdings eine solche Entwicklung heutzutage absehbar wäre (vgl. ai, Gutachten vom 18. Juli 2003, S. 1 f. sowie Der Spiegel Nr. 20 vom 11. Mai 2009).

Nur der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass in besonderen Fällen auch in der letzten Zeit und auch wohl heute noch Dorfschützer rekrutiert werden. Die geschieht aufgrund der Dorfschützerverordnung vom 1. Juli 2000, aber nur auf freiwilliger Basis und nur in ehedem von den türkischen Sicherheitskräften zwangsgeräumten Dörfern. Diese Personen sind rückkehrwillige Bewohner zwangsgeräumter Dörfer. Ihre Wiederansiedlung in den Dörfern wird häufig davon abhängig gemacht, dass sie Dorfschützer stellen. Diese erhalten zwar auch eine Waffe, die Übernahme des Amtes erfolgt jedoch "ehrenamtlich", ohne Sold und zudem freiwillig (vgl. ai, Gutachten vom 18. Juli 2003, S. 5 und Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004, S. 7). Eine solche Fallkonstellation liegt beim Kläger indessen eindeutig nicht vor.

Vor diesem Hintergrund ist für den Senat nichts ersichtlich, dass der Kläger wegen der Niederlegung des Dorfschützeramtes vor nunmehr mehr als 13 Jahren politische Verfolgung befürchten müsste. Das entspricht auch der Einschätzung des Sachverständigen Kaya (Gutachten vom 25. Oktober 2004, S. 7). Da der Kläger zudem seine Waffe beim Dorfvorsteher abgeliefert hat, droht ihm noch nicht einmal eine strafrechtliche Verfolgung - ganz abgesehen davon, dass eine solche nur unter engen Grenzen zugleich auch eine politische Verfolgung wäre.

Zum anderen hat der Kläger umso weniger eine (erneute) Zwangsrekrutierung als Dorfschützer zu befürchten, als seine Heimatprovinz Adiyaman nicht zu den bekanntermaßen mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinzen in der Südosttürkei (wie Diyarbakir, Hakkari, Mardin und Siirt, in denen bis 1987 auch das Kriegsrecht bestanden hatte) gehört, sondern weiter westlich liegt und auch nur eine kurdische Minderheit aufweist. Auch dürfte der Kläger für eine Dorfschützertätigkeit in seinem Heimatdorf aus persönlichen Gründen kaum in Frage kommen. Denn aufgrund seines mehr als 13 Jahre langen Aufenthalts im Ausland ist er mit den aktuellen Verhältnissen in seinem Heimatdorf und dessen Umgebung nicht vertraut. Zudem hat er mit nunmehr 50 Jahren ein Alter erreicht, in dem er für eine solche Tätigkeit noch weniger interessant ist.

Zum dritten ist für den Senat recht unwahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei überhaupt wieder in sein Heimatdorf bzw. seine Heimatregion zurückkehrt. Denn dort hat er nach seiner Ausreise aus der Türkei vor mehr als 13 Jahren seine erste Frau mit fünf Kindern zurückgelassen. Von diesen hat er sich längst abgewandt und ist eine neue Ehe mit einer türkischen Staatsangehörigen eingegangen. Diese hat offensichtlich drei Kinder in die Ehe mitgebracht (vgl. dazu die vom Kläger vorgelegten Unterlagen zur Gewährung von Prozesskostenhilfe). Mit dieser neuen Familie wird der Kläger kaum in das frühere soziale Umfeld des Heimatortes und der Heimatregion zurückkehren und damit eine mehr oder minder große Konfrontation damit suchen. Das gilt umso mehr, als er durch seinen langjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und seine aktuelle Tätigkeit in einem Logistikunternehmen dem Berufsfeld eines traditionell wirtschaftenden Bauern in der Türkei entfremdet ist. Deshalb wird er bei einer Rückkehr in die Türkei sehr viel eher seinen Wohnsitz in einer Großstadt der Westtürkei suchen, so dass sich das Problem einer Zwangsrekrutierung als Dorfschützer für ihn noch weniger stellen wird. [...]