Die Abschiebung eines Ausländers, der zu dem in § 1 FreizügG/EU genannten Personenkreis gehört, bedarf der vorherigen Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlusts des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU.
(Amtlicher Leitsatz)
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Für eine Abschiebung des Antragstellers fehlt es derzeit an einer rechtlichen Grundlage. Die Befugnis der Ausländerbehörde, einen Ausländer abzuschieben, ist in § 58 AufenthG geregelt. Diese Vorschrift ist jedoch auf den Antragsteller (derzeit) nicht anwendbar. Der Antragsteller fällt als Ehemann einer in Deutschland lebenden bulgarischen Staatsangehörigen unter den Anwendungsbereich des § 1 FreizügG/EU. Das Freizügigkeitsgesetz - FreizügG/EU - gilt gemäß seines § 1 für alle Unionsbürger, unabhängig davon, ob sie die Voraussetzungen für die Freizügigkeitsberechtigung nach §§ 2 bis 4 FreizügG/EU erfüllen (HessVGH, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -). Für diesen Personenkreis findet das Aufenthaltsgesetz nur nach Maßgabe des § 11 FreizügG/EU Anwendung. Da § 58 AufenthG im Katalog der in § 11 Abs. 1 Satz 1 bis 4 FreizügG/EU aufgeführten Vorschriften nicht genannt ist, hätte seine Anwendbarkeit nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU zur Voraussetzung, dass die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 festgestellt hat. Bis zum Erlass eines solchen Feststellungsakts der zuständigen Behörde gilt für den in § 1 beschriebenen Personenkreis zunächst eine Vermutung der Freizügigkeit (Gesetzesbegründung BT-Drs. 15/420, S. 101f).
Diese Vermutung zugunsten der Freizügigkeit des Antragstellers und seiner Ehefrau wird nicht durch § 13 FreizügG/EU widerlegt. Nach dieser Regelung findet das FreizügG/EU, soweit (u.a.) nach Maßgabe des Vertrages vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien zu Europäischen Union (BGBl. 2006 II S. 1146) abweichende Regelungen anwendbar sind, Anwendung, wenn die Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 Abs. 1 SGB III genehmigt wurde. Abweichende Regelungen im Hinblick auf das Freizügigkeitsrecht der bulgarischen Staatsangehörigen enthält der Beitrittsvertrag lediglich im Hinblick auf deren Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt mit der Folge, dass sie gemäß § 284 SGB III eine Beschäftigung nur mit Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit ausüben dürfen. Darüber hinaus enthält der Beitrittsvertrag keine Einschränkungen des Freizügigkeitsrechts. Insbesondere das durch Art. 20 Abs. 2, 21 AEUV i. V. m. der Richtlinie 2004/38/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (Unionsbürgerrichtlinie) gewährleistete Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger wird dadurch nicht berührt (vgl. HK-AuslR/Geyer § 13 FreizügG/EU Rdnr. 2). Dies ist offenkundig im Hinblick auf das gemäß Art. 6 der Unionsbürgerrichtlinie voraussetzungslos gewährleistete Aufenthaltsrecht von bis zu drei Monaten für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, gilt aber auch für die Ausübung des Freizügigkeitsrechts zum Zweck der Arbeitssuche (BayVGH, Beschluss vom 16.01.2009 - 19 C 08.3271 -, InfAuslR 2009,144). Spezielle, vorübergehende Beschränkungen aufgrund des Beitrittsvertrages ergeben sich danach nur für die Ausübung einer Arbeitnehmertätigkeit.
Bei der Ehefrau des Antragstellers ergibt sich die Freizügigkeitsvermutung aus dem von der Beschwerde nicht bestrittenen Umstand ihrer Arbeitssuche. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sie mit dieser Arbeitssuche eine Arbeit findet, für die sie eine Beschäftigungserlaubnis bekommen kann. Das Bestehen der Freizügigkeitsvermutung wird auch nach außen durch den Besitz der Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU dokumentiert. Zwar besteht das Recht auf Arbeitssuche nicht ausnahmslos (vgl. Bay VGH, Beschluss vom 16.01.2009 a.a.O.). Sieht die Behörde die Voraussetzungen nicht mehr für gegeben an, hat sie eine entsprechende Feststellungsentscheidung zu treffen.
Die Antragsgegnerin hat – wie das Verwaltungsgericht zu Recht angemerkt hat – bisher eine Feststellung über das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 im Sinne von § 11 Abs. 2 FreizügG/EU nicht getroffen. Gesetzliche Ermächtigungen für Verlustfeststellungen sind in § 5 Abs. 5 FreizügG/EU und in § 6 FreizügG/EU enthalten. Die Feststellung über das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts ist gesetzlich nicht weiter ausgeformt, wird jedoch neben § 11 Abs. 2 FreizügG/EU auch in § 7 Abs. 1 FreizügG/EU vorausgesetzt. Die Feststellung bedarf sowohl der Schriftform als auch einer Begründung, die geeignet ist, dass der Betroffene ihren Inhalt und ihre Wirkung nachvollziehen kann. Dies ergibt sich sowohl aus einer entsprechenden Anwendung von § 6 Abs. 8 Satz 2 FreizügG/EU als auch aus Artikel 15, 27 Abs. 1 Rili 2004/38/EG (im Ergebnis ebenso OVG Hamburg, Beschluss vom 6.3.2008 - 3 Bs 281/07 -, InfAuslR 2008, 199).
Die Verfügung der Antragsgegnerin vom 18.10.2007, mit der der Antragsteller aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wurde, enthält keine Verlustfeststellung. Sie kann auch nicht einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU gleichgestellt werden. Die Verlustfeststellung beträfe vorliegend - anders als in dem vom Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 04.09.2007 – 1 C 21/07 -) entschiedenen Fall eines Ausländers, der im Zeitpunkt der Ausweisung bereits freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger war -, eine völlig andere wesentlich privilegiertere und einem grundlegend anders strukturierten rechtlichen Regime unterliegende (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 22.03.2010 - 11 S 1626/08 -, InfAuslR 2010, 281) Rechtsstellung, als sie der Antragsteller zum damaligen Zeitpunkt inne hatte. Die Antragsgegnerin hatte zum damaligen Zeitpunkt keinen Anlass, eine solche Feststellung zu treffen und sich mit den qualifizierten Voraussetzungen für den Verlust des Freizügigkeitsrechts auseinanderzusetzen (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 28.09.2010 - 1 A 116/09 -), da der Antragsteller damals – vor seiner Heirat - noch nicht dem Anwendungsbereich des FreizügG/EU unterfiel.
Allein dem Vorbringen der Antragsgegnerin im vorliegenden Verfahren kann eine - konkludente - Feststellung des Nichtbestehens des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht entnommen werden. Lediglich konkludente Feststellungsentscheidungen genügen nicht den oben genannten europarechtlichen Vorgaben.
Sollte die Antragsgegnerin beabsichtigen, gegenüber dem Antragsteller eine förmliche Feststellung über das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zu treffen, hätte sie zu beachten, dass dies nicht allein mit der Passlosigkeit des Antragstellers begründet werden könnte, wenn seine Identität auf andere Weise nachgewiesen ist (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 28.09.2010 – 1 A 116/09 -, InfAuslR 2011, 2). [...]