Kein Widerruf eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans für den 20-jährigen Kläger, der Afghanistan im Alter von knapp einem Jahr mit seinen Eltern verlassen hatte und dort keine Verwandten mehr hat, da er keine menschenwürdige Existenzgrundlage finden könnte.
[...] Hier liegen die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan für den 20jährigen Kläger, der Afghanistan im Alter von knapp einem Jahr mit seinen Eltern verlassen hat und dort keine Verwandten mehr hat, weiterhin vor.
So hat das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 28.10.2009 ausgeführt, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt sei. Weiter wird ausgeführt, dass freiwillig zurückkehrende Afghanen in den ersten Jahren meist bei Familienangehörigen unterkämen, was die in der Regel nur sehr knapp vorhandenen Ressourcen (Wohnraum, Versorgung) noch weiter strapaziere. Eine zunehmende Zahl von Rückkehrern verfüge aber nicht mehr über diese Anschlussmöglichkeit. Die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen sei nach wie vor schwierig. Die soziale Absicherung liege traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehrten, stießen auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet seien oder in einen solchen zurückkehrten, da ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlten. Sie könnten auf übersteigerte Erwartungen bezüglich ihrer finanziellen Möglichkeiten treffen, so dass von ihnen überhöhte Preise gefordert würden. Von den "Zurückgebliebenen" würden sie häufig nicht als vollwertige Afghanen akzeptiert.
Nach der Rechtsprechung des HessVGH droht jungen ledigen Männern aus Afghanistan, die ihr Heimatland im Kindesalter als Vollwaisen ohne Angehörige und ohne abgeschlossene Schulausbildung verlassen haben, bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Extremgefahr, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG (AufenthG 2004) begründet, wenn nicht durch ein in Afghanistan funktionierendes soziales Netzwerk sichergestellt ist, dass sie dort eine menschenwürdige Existenzgrundlage finden können (Urteil vom 26.11.2009 - Az.: 8 A 1682/07.A (Voraussetzungen in dieser Entscheidung verneint); im Anschluss an OVG Koblenz, Urteil vom 6. Mai 2008 - 6 A 10749/07 -, VGH Mannheim, Urteil vom 14. Mai 2009 - A 11 S 610/08 -).
Dem schließt sich die erkennende Einzelrichterin an. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist auch der Kläger im Falle einer unfreiwilligen Rückkehr nach Afghanistan dort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Lebensverhältnissen ausgesetzt, die als extreme Gefahr i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. dessen Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 12.01 -, BVerwGE 114, 349) anzusehen wären, so dass spätestens durch den Erlass des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 27.07.2005 (StAnZ, S. 3258) eine Regelungslücke im Hinblick auf anderweitigen Schutz nach den §§ 60 Abs. 7 Satz 3, 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG entstanden ist, die durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu schließen ist. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen der vom Auswärtigen Amt geschilderten Rückkehrrisiken. Er hat sein Heimatland bereits 1998 im Alter von knapp einem Jahr verlassen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass er keine Familienmitglieder mehr in Afghanistan hat. Er hat überzeugend dargelegt, dass seine Onkel und Tanten mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland leben und lediglich ein Großonkel sich noch längere Zeit in Afghanistan aufgehalten habe, der jedoch zwischenzeitlich in Dubai lebe. Da der Kläger zur Zeit eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann absolviert, ist er auch nicht in der Lage, dass Existenzminimum in Afghanistan durch die Mitnahme von eigenen Ersparnissen für einen längeren Zeitraum zu sichern. Da der Kläger bereits im Alter von einem Jahr Afghanistan verlassen hat, ist im besonderen Maße davon auszugehen, dass er möglicherweise, wie im Lagebericht des Auswärtigen Amtes geschildert, von den "Zurückgebliebenen" nicht als vollwertiger Afghane akzeptiert und das er ohne Anschluss an die notwendigen sozialen oder familiären Netzwerke und ohne Kenntnis dort bestehenden Strukturen nicht in der Lage sein wird, sein Existenzminimum sicherzustellen. Zudem hat der Kläger vorgetragen, dass er ein Verwandter von Barabaka Karmal ist, der zwischen 1979 und 1986 der Präsident der Demokratischen Volksrepublik Afghanistans war. Auch wenn dieser Umstand nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.10.2009 bei einer Rückkehr zum jetzigen Zeitpunkt nicht zur politischen Verfolgung führen dürfte, muss davon ausgegangen werden, dass es für den Kläger vor diesem Hintergrund noch schwieriger sein dürfte, die für sein Überleben in Kabul notwendigen sozialen Kontakte herzustellen. [...]