VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 19.01.2011 - M 23 K 09.50269 - asyl.net: M18150
https://www.asyl.net/rsdb/M18150
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgungsgefahr für Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen in Afghanistan.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, UNHCR, internationale Hilfsorganisationen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]

In den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 10. November 2009 wird zur Frage der Gefährdung von Mitarbeitern nichtstaatlicher Hilfswerke ausgeführt:

"Es gibt immer mehr Anhaltspunkte, dass Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Regierungsprojekte umsetzen, und Nichtregierungsorganisationen oder zivile Vertragspartner, die über tatsächliche oder vermeintliche Verbindungen zu internationalen Truppen verfügen, einem sehr großen Risiko ausgesetzt sind, Opfer eines Angriffs der regierungsfeindlichen Gruppen zu werden. Geographisch gesehen besteht diese Gefahr überall dort, wo bewaffnete regierungsfeindliche Gruppen präsent sind oder zumindest über kleinste operationelle Kapazitäten verfügen. Daher können humanitäre Helfer und ihre Familienangehörigen einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein und zwar aufgrund der ihnen unterstellten politischen Überzeugung wegen ihrer mutmaßlichen Verbindung zur Regierung bzw. der internationalen Gemeinschaft" (S. 5 der UNHCR-Richtlinien).

Dem "Afghanistan: Update" der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur aktuellen Sicherheitslage vom 11. August 2010 ist zu entnehmen, dass Mitarbeiter von Hilfswerken sowie der UNO weiterhin bedroht, eingeschüchtert oder getötet werden. 2009 seien 172 Anschläge auf Nichtregierungsorganisationen und deren Mitarbeiter registriert worden, wobei es zu 19 Todesopfern kam; 59 Personen seien entführt worden. Allein im März 2009 seien 13 Hilfskonvois angegriffen und geplündert worden.

Durch gezielte Angriffe auch auf Wohneinrichtungen von Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen hat sich die Sicherheitslage der internationalen Gemeinschaft seit dem zweiten Halbjahr 2009 verschärft (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.07.2010, S. 17). Am 2. Juli 2010 wurde in Kundus ein internationales Gästehaus von vermutlich bis zu sechs Personen, darunter zwei Selbstmordattentätern, angegriffen. Dabei wurden vier Personen getötet, darunter ein deutscher Staatsangehöriger (Lagebericht, a.a.O.). Am 28. Oktober 2010 wurden fünf Angehörige der UNO bei einem Anschlag auf ein Gästehaus getötet, woraufhin die UNO 600 Mitarbeiter aus Afghanistan abzog. Selbst Personen, die im Straßenbau arbeiten, gehören zu den Zielen regierungsfeindlicher Gruppierungen ("Afghanistan: Update" der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 11.08.2010, S. 13).

Allzu oft seien Menschen, die im Kontakt mit ausländischen Organisationen stünden, ausgeraubt und entführt worden (Rede von medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer vom 24.11.2009 in Berlin anlässlich der Konferenz "Mission impossible am Hindukusch? - Zwischenbilanz der neuen internationalen Afghanistan-Politik"). Wer bei Straßensperren mit einer falschen Visitenkarte angetroffen werde oder in dessen Handy die Telefonnummer einer ausländischen Organisation gefunden werde, müsse um sein Leben fürchten (Rede von medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer vom 24.11.2009, a.a.O.).

Als ehemaliger Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen kann sich der Kläger bei den heutigen menschenrechtswidrigen Verhältnissen keineswegs auf den Schutz durch Regierung und Polizei verlassen, sondern müsste im Gegenteil damit rechnen, der Verfolgung nichtstaatlicher Gruppierungen ausgesetzt zu sein. Denn es besteht für den Kläger die Gefahr, als sogenannter "Gottloser" angesehen zu werden. Dies ist schon vor dem Hintergrund seiner exponierten Stellung beim UNHCR "World Food Program" zu bejahen. Hinzu kommt, dass der Kläger bei der katholischen Hilfsorganisation "Catholic Relief Services" wiederholt gearbeitet hat. Es liegt auf der Hand, dass auch das Verbleiben des Klägers im westlichen Ausland mit Blick auf die frühere Tätigkeit in Afghanistan einer Wertung unterliegt, die bei seiner Rückkehr die Annahme einer Verfolgungsgefahr aufdrängt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan nicht existiert, zumal nichtstaatliche Akteure ihre Opfer über den eigenen Machtbereich hinaus verfolgen und oft in Beziehung zur Regierung oder den Behörden stehen (Afghanistan: Update, a.a.O, Seite 20). [...]